: Gregor Gysis großer Sprung
Wahlkampfmotto der PDS: Don't worry, take Gysi / Der Fall ins Bodenlose scheint gestoppt ■ Von Georgia Tornow
„Ich kann euch sagen, die Welt sieht von oben so schön aus, daß ich finde, es lohnt sich schon noch, was dafür zu tun. Und das Stück DDR, das ich da einsehen konnte, ist auch ein sehr schönes Stück. Wir haben es nicht zu verschenken!“ Jubel- und Jawoll-Rufe antworten dem noch ein bißchen kurzatmig mit dem Megaphon hantierenden Gregor Gysi. Nicht etwa, daß ihn der erste Fallschirmabsprung in seinem 42jährigen Leben so geschafft hätte: das war Dank der Absicherung durch einen erfahrenen Springer am gleichen Schirm vor allem eine Mutprobe und keine sportliche Hochleistung. Aber dann kam der flotte Aufstieg auf das Dach eines rundum mit PDS-Plaketten und Plakaten bis zur Unkenntlichkeit bestückten VW-Golf!
Da soll keiner sagen, die PDS-Strategen könnten das nicht Wahlkampf wie im Wilden Westen. Aber sie haben mit Gysi auch einen echten Joker im Machtpoker. An diesem kaltwindigen Samstag nachmittag auf dem Segelflieger-Acker von Friedersdorf bei Berlin wird ihm einiges abverlangt: Fallschirmabsprung für einen guten Zweck, nämlich Solidarität mit dem örtlichen Flugsportverein (ehemals eine Untergruppe der Gesellschaft für Sport und Technik der DDR), wo Platzverlust droht, weil die Bauern des Dorfes dort lieber ein gewinnbringenderes Freizeitangebot ansiedeln wollen, angeblich Reitställe und Tennisplätze für die neuen Westberliner Wochenendurlauber. Entsprechend ist die Beteiligung der ländlichen Kader an dem ganzen Spektakel: gleich Null. Gekommen sind dafür an die 300 Menschen, die mit der PDS ein Ding zu laufen haben und es wahrscheinlich auch mit der SED schon hatten, dann noch ein beachtliches Aufgebot von internationaler Presse. Der Casus ist wie gemalt für eine PDS-Aktion. Kein Wunder, daß deren Pressesprecher und auch die Vereinsmenschen immer wieder erklären müssen, die Initiative für die ganze Sache wäre eben nicht von der PDS ausgegangen, der Verein hätte seine Unterstützungsbitte so ziemlich an alle prominenten Politiker geschickt, Bauernpartei-Chef Maleuda wird mehrfach genannt, aber: keine Antwort, außer von Gysi.
Da sind wir aber froh, daß wir nicht zuschauen müssen, wie Maleuda vom Himmel fällt. Lothar wird das genauso gehen. Lothar ist nämlich der Meisterspringer, der mit dem vor seinen Bauch geschnallten Gysi als riesiger Doppelkäfer zur Erde schwebt. Pikanterweise kommt diese Hilfestellung aus dem Westen. Mit ihrer Cessna sind er und ein paar Vereinsfreunde aus Meißenheim nach Friedersdorf gekommen, in Zukunft wollen die beiden Vereine „irgendwie mehr zusammen machen“. Was bei anderen DDR-Parteien zu allerhand beziehungsvollen Bemerkungen über Deutsch-Deutsches führen würde, ist bei den PDS-Leuten kein Thema. Hier interessiert man sich zuerst mal dafür, wie die eigenen Angelegenheiten stehen.
Die um die vierrädrige Rednertribüne drängelnden Fans wollen mehr hören von ihrem - im lichtblauen Stretchanzug nicht direkt dünnen - Gregor. Sie kriegen „Symbolik satt“: „Wir sind wieder weich gelandet, wir sind von oben gekommen - jetzt kommen wir von unten, aber gehen trotzdem nach oben - und ich muß schon sagen, dieser freie Fall, der hatte auch was Aufregendes an sich, aber es ist dann doch gut, wenn das mal aufhört.“ Erleichtertes Lachen, in dem der vergangene Schrecken noch nachklingt. Der jähe Absturz, Anfeindungen, Isolation und die riskanten Manöver im enger werdenden politischen Raum, all das hatte die PDS -family nicht nur fester zusammenrücken lassen, sondern auch tief verunsichert. Nur zu gern möchte man Gregor Gysi glauben, daß es jetzt aufwärts geht.
Wieder auf festem Boden?
In der Endphase des Wahlkampfs steht die PDS tatsächlich deutlich besser da, als von den meisten erwartet. Zwischen 12 und 17 Prozent der Wählerstimmen werden ihr mittlerweile wieder zugetraut - und das verdankt sie Gregor Gysi und Helmut Kohl. Je näher der Wahltag als Entscheidungsdatum über das Wie und Wann der deutschen Einheit rückt, um so mehr Menschen scheinen in einer langsameren Gangart Vorzüge zu erkennen. Es wird nicht unbedingt Gregor Gysis Lieblingsidee geteilt, die Konditionen der Einheit von der Basis einer souveränen DDR aus zu verhandeln, wohl aber die ihr zugrunde liegende Sorge vor Abhängigkeit von den Launen, Wechselfällen und Unverschämtheiten der Bonner Politik. „Wir“, sagt Gysi, und das wir steht doppelt, nämlich für die DDR und die PDS, „wir verdienen Respekt und Parität.“
Das Wahlprogramm der PDS ist ein Flickenteppich - wie bei allen anderen Parteien auch. Das einzig nach dem Motto „Doppelt genäht hält besser“ abgesicherte Feld ist ihre Position zur Verfassungsdebatte. Im Februar danach gefragt, ob denn überhaupt keine internationale Unterstützung im Wahlkampf organisiert sei, antwortete Gregor Gysi noch geheimnisvoll, aus Moskau würde schon was kommen... Seitdem Modrow in Moskau seinen Brief übergab, beharrt der PDS-Chef darauf, die Eigentumsverhältnisse auf dem Gebiet der heutigen DDR könnten bei der Verhandlung der deutschen Frage mit den Alliierten völkerrechtlich garantiert werden juristisch widersinnig, eine neu zu etablierende Souveränität derart einzuschränken (und das weiß der Anwalt Gysi), aber politisch höchst effizient (wie die Bonner Wutausbrüche zeigten). Mit diesem Schachzug wurde die Verfassungsfrage ganz unabhängig von den Regelungen des Grundgesetzes und dem Hickhack um Artikel 23 oder Artikel 146 auf die Tagesordnung von „Vier-plus-Zwei“ plaziert. Das ist elegant.
SED-PDS
Der zweite Faktor - das Standbein sozusagen - für die günstigeren Wahlprognosen ist die Konsolidierung der eigenen Hausmacht. Die Mitgliederzahl hat sich seit den Novembertagen rasant verringert. Aber wenn es tatsächlich noch 700.000 Menschen sind, die in und mit der PDS Politik machen wollen, dann ist sie eben immer noch die größte Partei in der DDR - und im Westen kann nur die SPD mithalten. Zu den PDS-Veranstaltungen kommen heutzutage sowieso nicht mehr die Massen, also kann man sich ganz auf die Mitglieder konzentrieren - Nachteile zu Vorteilen umzunutzen, das ist eine große Stärke des Gregor Gysi. Seine überraschenden Gewißheiten wirken wie Balsam auf das tief erschütterte Selbstbewußtsein der ParteigenossInnen. Unpathetisch, ironisch, schlagfertig jagt er von einem Wahlkampftermin zum anderen, sein Team rechnet staunenden JournalistInnen gerne detailliert die wenigen Schlafstunden vor. Ihn selber beschäftigt lange, daß er am Tag, an dem sein 18jähriger Sohn seine Facharbeiterprüfung machte, unterwegs war und nicht zu Hause. Sorgen eines alleinerziehenden Vaters: „Das wird er mir nicht verzeihen. Und recht hat er, und ich hab‘ wieder mal unrecht. Frauen haben in solchen Situationen eine andere Fähigkeit, zu teilen, als ich sie habe.“ Verantwortung ist nicht teilbar, so sein Resümee, aber es gibt verschiedene Felder, und die Entscheidung für eines davon löst den persönlichen Konflikt nicht, sich trotzdem zuständig zu fühlen.
Ähnlich hin- und hergerissen fühlte er sich als „Anwalt der Opposition“, ohne selbst „Mitglied der Opposition“ zu sein. Rudolf Bahro zu verteidigen und ihn gleichzeitig offen politisch zu unterstützen, das ging eben nicht zusammen. Damals hat er sich für die Verantwortung des Anwalts für seinen Mandanten entschieden. „Heute“, meint er, „heute würde ich wohl anders handeln.“ Wäre er dann auch noch in der PDS?
Gregor Gysi ist knallsympathisch, und die PDS-family liebt ihn. Das hat auch eine Menge damit zu tun, daß er seinen exponierten Posten gerade dann übernahm, als mit der SED nun wirklich kein Staat mehr zu machen war. Wären da nicht die widrigen Umstände der Einheitspartei gewesen, er könnte als Senkrechtstarter bezeichnet werden. Als einziger aus der Troika Berghofer, Gysi, Modrow hatte er kein höheres Parteiamt bekleidet. Im Gegenteil: Die Laufbahn als Jurist qualifizierte dafür einfach nicht. Als Vorsitzender der DDR -Anwaltsorganisation war Gysi zwar auch mit 20 in die Partei eingetreten, aber sein Engagement für Oppositionelle sicherte ihm ein hohes Ansehen bei den neuen Organisationen und Bewegungen. Er hatte die SED eben nicht nötig - die aber ihn. Er ist mit mehr persönlicher Enttäuschung als alle anderen von Berghofers Parteiaustritt überrascht worden schließlich hatte der ihn zur Übernahme des Vorsitzes überredet. Den Abgang Modrows hat er immerhin wirksam verhindern können.
Gregor Gysi ist knallhart in der Parteifrage. Auf allen drei Kongressen von der SED zur PDS stand die Bewahrung der Partei für ihn nie zur Disposition. „Aus anderthalb Jahrhunderten Geschichte der Arbeiterbewegung steigt man nicht einfach aus!“, dies das traditionsbewußte Argument mit liebevollem Respekt für die alten Getreuen, „die sich eher totschlagen lassen, als ihr Parteibuch abzugeben“. Noch schwerer wog in den Zeiten des Zusammenbruchs der Staatspartei und ihrer Staatsmacht das politische Kalkül: „Wir waren ja auch eine Solidargemeinschaft zum Schutz des Einzelnen, und wenn wir weg gewesen wären, hätte sich die Straße einen neuen Angriffspunkt gesucht. Vielleicht hat das tatsächlich etwas mit Schuld abtragen und mit Buße zu tun, wir waren uns jedenfalls im Parteivorstand sehr bewußt, daß bei unserer Auflösung die nächsten freigegeben sind, wahrscheinlich die Regierung oder die Polizei, jedenfalls irgend etwas, was als Hindernis zum sofortigen Anschluß empfunden wird. Das wäre eine unzulässige Übertragung gewesen, deshalb mußten wir der Angriffspunkt bleiben. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich das überhaupt als Argument verwende. Aber ich hab‘ es getan, und das war ein Akt der Ehrlichkeit.“ Rudolf Bahro hatte in seiner Parteitagsrede eine andere Ehrlichkeit dagegengesetzt: „Ich kann nicht Mitglied einer Partei sein, die den institutionellen Bruch mit sich selbst, den wirklichen Neuanfang, den Schritt der Auflösung und eine, sei es auch noch so kurze Nachtfahrt nicht wagt.“ Gysi hat sich anders entschieden.
Don't worry - take Gysi?
Gregor Gysi ist das Beste, was der SED passieren konnte. Und für die PDS gilt das bis heute dito. Nach vierzig Jahren, in denen der Große Bruder in Partei, Staat und Gesellschaft das Sagen hatte, übernahm es der kleine Bruder, den Familienkarren aus dem Dreck zu ziehen. Gregor Gysi verkörpert den Generationswechsel, er praktiziert einen neuen Politikstil. Auf die flapsige Frage, ob er denn in der Partei eine „Gang“ habe, meint er: „Nein, ich habe doch Basisdemokratie.“ Gregor Gysi hat die PDS-Schläuche runderneuert und damit der family noch mal einen Bewegungsspielraum verschafft.
Was gut für die PDS ist, ist das auch gut für die DDR? Gibt es nicht eine Beziehung zwischen dem politischen Bedeutungsschwund des Neuen Forums und der Konsolidierung der PDS? Die guten Kräfte lassen sich nicht zweimal verteilen.
Der DDR-Politiker Gysi sieht durchaus auch nach vorn, und das heißt über die heute noch verteidigte Grenze: „Der 'Bildzeitung‘ hab‘ ich ja schon gedroht, wir würden dann auch als PDS in den Bundestag gehen. Aber das hat offensichtlich niemanden ausreichend geschockt. Das ist schließlich auch noch eine Perspektive. Und da sind die Chancen der PDS gar nicht so schlecht. Denn viele Bewegungen in der Bundesrepublik sind entweder zu etabliert oder zu wenig orientiert, und da hätte man mit einer wirklich demokratisch strukturierten und relativ klar orientierten linken Partei mit einer großen Geschichte und großen Erfahrung vielleicht gar keine schlechten Chancen. Das muß dann mit meiner Person gar nichts mehr zu tun haben.“
Westdeutsche Fans sind aber schon angetreten. Mathias Horx stellt im 'Pflasterstrand‘ die Ferndiagnose: „Gregor Gysi ist einer von uns - willkommen in der Weißweinfraktion!“ Was man von Frankfurt aus wohl nicht leicht in Erfahrung bringen kann: Gregor Gysi trinkt Rotwein und Bier.
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