: Die SED vernachlässigte die Stabi in Ost-Berlin
■ Veraltete Arbeitsmethoden, lange Wartezeiten / Bibliotheksmitarbeiter sprechen von „Adel im Untergang“ / Gibt es bald eine Großberliner Einheitsbibliothek? / Bundesbaubehörde schätzt die Sanierungskosten auf 120 Millionen D-Mark
Im Lesesaal der Deutschen Staatsbibliothek Ost-Berlin herrscht Bahnhofskulisse. Klappernde Bücherwagen werden in steter Regelmäßigkeit von den Magazinarbeitern zu den neuen Magazintürmen geschoben. Für einen separaten Verbindungsgang reichten die Staatszuschüsse nicht. Außer Ohrenstöpseln brauchen die BenutzerInnen der Staatsbibliothek auch sonst viel Geduld und vor allem Zeit. Denn die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein, während vor der Tür das laute Leben „Unter den Linden“ voranschreitet. Der erste Eindruck beim Betreten des romantischen Innenhofes, der von einer mit wildem Wein bewachsenen Fassade umrahmt ist, zeugt von Ruhe und alter Wissenschaft.
Doch was für Touristen Vergnügen bedeutet, ist für LeserInnen und MitarbeiterInnen in der Stabi täglicher Frust. Die Arbeitsbedingungen sind größtenteils mehr als ehrwürdig, der Geschäftsgang schleppend, und die daraus resultierenden Wartezeiten können auch den Geduldigsten aus der Ruhe bringen. So ist es auch nicht verwunderlich, daß Angestellte die Frage, ob sie stolz seien, in solch einer namhaften Institution zu arbeiten, mit einem gequälten Lächeln quittieren. Langjährige MitarbeiterInnen bezeichnen sich als „Adel im Untergang“.
Konservative Ansichten über die Eignung von jungen Leuten für Leitungspositionen bewog seit vielen Jahren den Bibliotheksnachwuchs immer wieder zum Abwandern. Inzwischen ist die Leitungsebene genauso überaltert wie der gesamte Arbeitsstil.
High-Tech findet man nur im Rechenzentrum des Hauses, wo man schon seit Jahren Software entwickelt, um sie anschließend an andere Bibliotheken zu verkaufen. Gelder für die nötige Hardware mit genügender Kapazität, um den enormen Speicheraufwand zu bewältigen, hatte Vater Staat für seine größte und wichtigste wissenschaftliche Bibliothek bis jetzt nicht übrig. Bis zur Fertigstellung der neuen Magazintürme 1987 stapelten sich die Bücher in den Magazinen zum Teil bereits in der dritten Reihe vor den Regalen auf dem Fußboden.
Diese Situation hat sich zwar inzwischen entspannt, doch von dem bereits in den siebziger Jahren erarbeiteten Konzept zur Rekonstruktion und dem Ausbau der Staatsbibliothek wurden bis jetzt nur eine Rohrpostanlage und die Magazintürme fertiggestellt. Die Rohrpostanlage läßt sich jedoch in den isoliert gelassenen Türmen nicht nutzen und schlummert demzufolge als Investruine von rund einer Million Mark einen ungestörten Dornröschenschlaf.
Wenn der Hofarchitekt Ernst von Ihne seine 1913 eingeweihte ehemals „Königliche Bibliothek“ heute sehen könnte, würde er sich im Grabe herumdrehen. Er konstruierte ein für damalige Verhältnisse hochmodernes Gebäude, mit voll funktionstüchtiger Rohrpost-, Entstaubungs- und Büchertransportanlage, einer mechanischen Zählanlage und einer Fotokopierstelle direkt im Lesesaal - alles Geschichte! Die Vernachlässigung der Staatsbibliothek ist ein Paradebeispiel für die Ignoranz der alten Partei- und Staatsführung gegenüber den Intellektuellen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde bisher nur die Außenfassade anläßlich des 325jährigen Bestehens der Bibliothek und der 750-Jahr-Feier Berlins saniert. Mittel zum Erwerb westlicher Wissenschaftspublikationen waren knapp, doch für die Reglementierung für politisch unliebsame Literatur um so großzügiger. Für die Herausgabe mit einem W oder einem roten Kreis gekennzeichneter Bücher mußte der Leser extra Genehmigungen erbringen. Dies galt ebenso für die separat geführte Abteilung für spezielle Forschungsliteratur, die jetzt, nach der Wende, mit ihren rund 1.200 Bänden frei zugänglich ist. Nur für faschistische Literatur und vor allem ältere Bücher gibt es heute noch Einschränkungen.
Für viele LeserInnen aus Ost-Berlin, die nach der Öffnung der Mauer zunächst zur Westberliner Konkurrenz, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, gegangen waren, wird daher die Ostberliner Staatsbibliothek wieder interessanter. Nach jahrzehntelanger Teilung der beiden Berliner Staatsbibliotheken haben sich deren Direktoren auf einer ersten Dienstbesprechung für eine intensive Zusammenarbeit ausgesprochen. Gemeinsam verfügt man über rund 13 bis 14 Millionen Bände. Kooperationsüberlegungen zum Neuerwerb von Büchern werden über kurz oder lang eine Vereinigung beider Bibliotheken einschließen.
Schon heute stellt sich die Frage, wie eine neugegründete Institution „Vereinigte Staatsbibliotheken zu Berlin“ finanziell abgesichert werden soll. Die Kosten der Sanierung der alten Bibliothek „Unter den Linden“ wurden von der Bundesbaubehörde bereits mit 120 Millionen DM veranschlagt. Wenn am 28. April die MitarbeiterInnen beider Häuser ein gemeinsames Betriebsfest feiern und die Sektkorken knallen, ist das hoffentlich der Startschuß für die kollegiale Bewältigung der zukünftigen, gemeinsamen Bibliotheksarbeit.
Markstein
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