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Völkerwanderung

Alle Ismen sind tot, der Nationalismus lebt  ■ G A S T K O M M E N T A R

Die Ostmark, Hofzaun des Reiches, steht im Abwehrkampf gegen 30.000 fremd aussehende Rumänen.

Täglich kehren 2.000 Trabis heim, gemeinsames Blut gehört in ein gemeinsames Reich, auch wenn in deutschen Adern nur noch D-Mark fließen.

Und die nationale Sozialdemokratie torkelt tapfer ins letzte Gefecht, Willy-Bein für N wie National, Oskar-Bein für S wie Sozial.

Das ist alles nur der Anfang. Draußen vor der Tür warten viele hunderttausend Osteuropäer, viele Millionen aus der Dritten Welt.

Wer glaubt, daß die Öffnung der Grenzen auf der Tagesordnung steht oder gar die Öffnung der Herzen - irrt sich.

Wer glaubt, daß abgerüstet werden wird, bei solcher Bedrohung - irrt sich.

Wer glaubt, es hilft, hilflos zu rufen: Nazis raus! - irrt sich am meisten.

Alle Ismen sind tot, der Nationalismus lebt.

Die Linke ist aufgefordert, neu zu denken - eine ungewohnte Beschäftigung für sie, die sich im bequemen Glück suhlt, alle Lösungen zu wissen, und in der bequemen Trauer, daß keine davon funktioniert.

Wir haben immer unterschrieben, daß die Tibeter nicht von den Chinesen überfremdet werden, sondern Tibeter bleiben dürfen - jetzt müssen wir bei uns daheim unterschreiben.

Ja, es gibt das Menschenrecht, überallhin völkerzuwandern, wo's besser scheint. Ja, es gibt das Menschenrecht, bei sich heimisch zu bleiben, ohne überrollt zu werden.

Gegen Fremdenhaß kann man nur sein, wenn man, außer den Fremden, auch noch die eigenen Leute liebt.

Der Kapitalismus spielt Komödie. Er kriegt die billigen Arbeitskräfte, und die Linken müssen die Liebe predigen.

Die Nachkriegsordnung, zerstört durch die osteuropäische Revolution und die dadurch losgetretene deutsche Wiedervereinigung, wird jetzt endgültig beseitigt durch die neue Völkerwanderung.

„Man kann Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren, man kann sie aber abkürzen und mildern“, sagte ein kluger Mann namens Marx. „Die Geschichte ist eyn spiel Gottes“, sagte ein noch klügerer namens Luther. Der Herr spielt täglich eine Stunde mit dem Leviathan. Davon wird das Ungeheuer schwanger. Und siehe, gebären wird es den neuen Sozialismus.

Günther Nenning

Der Autor ist Journalist und lebt in Wien. Nach vierzigjähriger Mitgliedschaft in der SPÖ gründete er die österreichischen Grünen.

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