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Furcht um das Projekt Europa '92

Mitte September 1989: Der Vorhang hängt noch, es gibt lediglich den Riß an der ungarisch-österreichischen Grenze. Der belgische Außenminister Eyskens läßt nur off the record verlauten, was ihm anscheinend am meisten beschäftigt in diesen Tagen: Deutschland. „Wie der Nationalismus dort wieder nach oben kommt, geradezu beängstigend!“ Seitdem hat sich die Welt, vor allem in Deutschland, gründlich verändert. Eines jedoch ist unverändert geblieben: Immer noch lassen sich belgische Politiker nur inoffiziell aus über ihre tiefsitzenden Vorurteile in Hinblick auf das eine Deutschland.

Aus den Diskussionen über das „Große Deutschland“ scheint Belgien vor allem zu lernen, wie klein es selbst ist. Nicht daß die belgische Regierung noch irgendwelche Illusionen hegen würde über eine eigenständige Außenpolitik. Dennoch hofft sie weiterhin, über Foren wie die Nato und die EG ihrer Stimme Gehör verschaffen zu können. Und gerade das scheint nicht zu gelingen: Als in Ottawa entschieden wurde, daß die beiden Deutschlands und die vier Alliierten die Modalitäten der deutschen Vereinigung untereinander aushandeln würden, verschaffte sich Minister Eyskens Luft: Zwar bestreite er die Rechte der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs nicht, so der Minister, „aber es ist doch selbstverständlich, daß diese Nationen nicht im Namen Belgiens verhandeln können“. Damit war die Weltöffentlichkeit gewarnt, daß sich die Belgier ihre deutschsprachigen „Ostgebiete“ nicht einfach wegnehmen lassen werden.

Noch aufgebrachter zeigte sich der (sozialistische) EG -Kommissar Karel van Miert über die „geradezu schändliche Art und Weise“, mit der die „kleinen Länder“ von der Nato behandelt werden. „Wenn es darum geht, Raketen zu stationieren, darf man seinen Standpunkt noch kundtun - auch mit Nachdruck; dann wird man sogar im Weißen Haus empfangen. Aber in bezug auf die deutsche Wiedervereinigung gab es keinerlei Konsultationen, keine Diskussion. Man wird kaum informiert. Wenn es darauf ankommt, haben die kleinen Länder nichts, aber auch gar nichts zu melden.“

Während Belgiens Politiker um ihr Mitspracherecht beim Einigungsprozeß der beiden Deutschlands kämpfen, bleibt offen, was sie in diesem Fall beizutragen hätten. Spannend oder gar originell ist der offizielle Standpunkt Belgiens in dieser Frage nämlich nicht: Die Regierung sieht kaum Hindernisse, wenn nur die EG keine Bruchlandung erfährt. Die deutsche Einheit behindert nämlich die europäische Einigung

-das ist es, was den Politikern in Brüssel, dem Knotenpunkt Europas, „das bereits beängstigend peripher liegt“, Sorgen bereitet. Das Projekt Europa '92 kann nach Auffassung der Belgier nicht wie geplant über die Bühne gebracht werden. „Deutschland redet zwar noch von Europa“, sagt van Miert, „aber täglich läßt sich feststellen, daß das nur Lippenbekenntnisse sind. Es ist nicht länger klar, ob die deutsche Vereinigung parallel zum Prozeß der europäischen Integration verlaufen soll.“ Und zu Kohls Eiertanz in der „Grenzfrage“ heißt es: „Kohl hat es geschafft, seine beiden wichtigsten Nachbarn innerhalb kürzester Zeit gegen sich aufzubringen. Er war es, der die Polen erneut in die Arme der Russen und Franzosen getrieben hat.“

Und die breite Bevölkerung? Sieht sie dunkle Wolken über Europa aufziehen? Wenn, dann höchstens im stillen. Die Entwicklungen im Osten inspirieren die Belgier zu Unsicherheit und Freude, eine Mischung, die ein politischer Beobachter bereits mit dem Begriff „Pisa-Gefühle“ zusammenfaßte: „Gefährlich schief ist es, was dort passiert, aber immerhin schön.“ Was die deutsche Nation im besonderen betrifft, so scheint die Kriegsvergangenheit den belgischen Blick auf die Deutschen nicht länger zu färben. Wenn es Angst geben sollte, so ist es die vor der Verdrängung durch den wirtschaftlichen Koloß, den ein vereinigtes Deutschland auf jeden Fall darstellen wird. Was die belgischen Clausewitze bemerken läßt, daß die Vereinigung die Fortsetzung des Krieges mit finanziellen Mitteln ist.

Mark Schavers, Brüssel

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