: Pendel, Warten, Schieben - Frust
■ Wenn sich Radfahrer auf die Ostberliner S-Bahn verlassen, sind sie verloren / Ein Bericht über den Horror des „Schienenersatzverkehrs“ und seiner ermüdenden und ärgerlichen Folgen für die Pedalritter
Wenn sich in der DDR die Deutsche Reichsbahn zur Wahl gestellt hätte, würde der große Verlierer wohl nicht SPD geheißen haben. In Berlin sorgt alleine die kleine Schwester S-Bahn für so viel Frust, daß in der Hauptverwaltung eigentlich jeden Tag mit einem wütendem Sturm der Bevölkerung auf das Hauptgebäude zu rechnen sein müßte.
Ständiger Schienenersatzverkehr im innerstädtischen und Randzonenbereich könnte unter den Bedingungen einer nicht mehr nur 1,2- sondern gut 3-Millionenstadt über kurz oder lang zu einer öffentlichen Steinigung von daran unschuldigen Reichsbahnangestellten führen. Wer zum Beispiel wie wir am Wahlwochenende mit dem Fahrrad eine Tour in den reizvollen Norden Berlins unternehmen wollte, wird inzwischen eine ungefähre Vorstellung davon haben, was im Sommer auf alle Beteiligten so zukommen wird. Pendelverkehr ab Treptower Park und von Storkower bis Greifswalder Straße dann sogar Schienenersatzverkehr. Das bedeutet für alle Radfahrer rein in den Sattel und im schnellstmöglichen Tempo hinter den Bussen her, denn die dort wieder einsetzende S-Bahn wartet nicht extra auf die im „Viehabteil“ mitreisenden Radfahrer.
Eine Mitnahme der Radfahrer ist laut Personenbeförderungsanordnung für Busse nicht gestattet, auch wenn diese eigentlich für die S-Bahn fahren. Ab Berlin -Karow hätte dann eigentlich der Schienenbus nach Großschönebeck fahren müssen (das ist die Richtung nach Wandlitz und der Schorfheide), doch stattdessen auch hier wieder Schienenersatzverkehr von Berlin-Buch bis Basdorf so ungefähr schlappe 15 Kilometer bei deren Überwindung jeder normale Radfahrer das Rennen gegen den Bus verliert und somit den Anschluß an den nächsten Zug in Basdorf. Angesichts der Tatsache, daß man den ersten Teil der Odyssee wenigstens noch aus der Ostberliner Presse erfährt, war der zweite Teil eine echte Überraschung. Langsam wütend geworden, beschlossen wir unsere Mitnahme als Radfahrer notfalls sogar mit einer Straßenblockade zu erzwingen. Doch was die gut gemeinten Worte eines Mitreisenden, unser Vorhaben doch lieber aufzugeben, nicht schafften, daß bewirkte allerdings das zermürbende Warten.
Gläubig wie in alten Zeiten und seit 40 Jahren, standen die Leute in Buch und warteten eine geschlagene Stunde lang auf den oder die Busse, denn wieviel kommen würden, wußten die rund 150 Leute auch nicht. Unsere anfänglich wilde Entschlossenheit, hatte sich bereits nach einer halben Stunde auf den Nullpunkt zubewegt, und wir disponierten lieber eine andere Tour als noch länger sinnlos herumzuwarten. Wir schwangen uns also auf unsere Räder und machten uns unter den neidischen Blicken der Zurückbleibenden auf den Weg nach Werneuchen.
Nach Information bei der Pressestelle der S-Bahn wird diese Situation auch noch eine ganze Weile bestehen bleiben, denn der Schienenersatzverkehr bei der S-Bahn ist eine Folge der Streckenelektrifizierung der Fernbahn. Gerade aber auch im Bereich des alten S-Bahninnenringes sind außerdem auch Modernisierungen der S-Bahn selbst bitter notwendig. Immerhin werden in absehbarer Zeit auch verstärkt die neuen S-Bahnzüge eingesetzt werden. Diese haben statt der bisher üblichen drei dann sieben solcher Abteile für Hunde, Traglasten und Fahrräder. Das wird die Situation im Sommer dann hoffentlich wenigstens etwas entlasten.
Ansonsten wird sich S-Bahn und BVB jedoch in Zukunft wohl doch etwas mehr überlegen müssen, wie sie dem in den letzten Jahren neu entstandenen Freizeitverhalten der Bevölkerung mehr entgegenkommt. Das Fahrrad wird auch in Ost-Berlin die Alternative zu einem von Autos überlasteten Verkehr sein. Es wird nicht mehr angehen, den vom Schienenersatzverkehr betroffenen Radfahrern die flapsige Antwort zu geben, daß sie doch zu Hause bleiben sollen, wenn ihnen das nicht paßt. In einer Zeit der allgemeinen Reformen, muß es doch auch möglich sein, eine längst veraltete Personenbeförderungsanordnung zu reformieren. Der Wortbandwurm selbst zeigt schon aus welch vergangenen und längst überholten Zeiten diese Verordnung stammt.
Markstein
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