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Die Anderen zur DDR-Wahl

■ The Guardian / Gazeta Wyborcza / Liberation / De Volkskrant / Tagesanzeiger / Corriere della Sera

The Guardian

Das englische Blatt über den Sieger Kohl:

Dr. Kohls unbestrittene Beschränktheit wurde in der Vergangenheit von vielen Europäern als symbolisch für die Beschränktheit der Bundesrepublik selber angesehen. Er war der Verbandsführer eines Wirtschaftsstaates, einer Gesellschaft, die ihr historisches Bewußtsein verloren hatte ebenso wie die nationalistische Leidenschaft, und sich statt dessen - sowohl auf individueller als auch auf Regierungsebene - materialistischen Zielen verschrieb. Es war eine Bundesrepublik von ökonomischer Bedeutung mehr noch, als sie es unter Helmut Schmidt, Willy Brandt und Konrad Adenauer gewesen war, der jedoch die starke internationale Präsenz fehlte, die ihr diese Regierungschefs verschafft hatten. Aber Erscheinungen täuschen. Es ist genau Dr. Kohls Verständnis, daß die Quintessenz von Deutschands internationaler Lage in der großen Kluft zwischen seiner Macht und seiner Position bestand, und dies brachte ihm Erfolg. Der Kanzler verstand, mit anderen Worten, die Notwendigkeit, Ansprüche geltend zu machen. Das war es, was hinter seinem Entschluß vor zwei Wochen stand, entschieden in die ostdeutschen Wahlen einzugreifen. Er tat es, indem er eine Zwillingsbombe fallen ließ: die Währungsunion und den Artikel 23.

Dr. Kohl las in der ostdeutschen Gesellschaft weitaus genauer als andere Politiker oder die meisten Journalisten und Intellektuellen. Insbesondere erfaßte er die tatsächliche Spaltung in diesem Land zwischen einer althergebrachten beruflichen Mittelklasse, liberal und idealistisch, die sich gleichzeitig über ihre Aussichten in einem rasch vereinigten Deutschland sorgte, und einer sehr viel mehr einseitig denkenden Arbeiterklasse, die kein Interesse an unsicheren Experimenten hatte und schnellstmöglich westdeutschen Wohlstand wünschte.

Gazeta Wyborcza

Die Solidarnosc-Zeitung über die Hauptursachen für des Wahlausgangs:

Viele DDR-Wähler haben ihre Entscheidung nach dem Prinzip „im Zweifelsfall für die Rechte“ getroffen. (...) Mit Sicherheit wollten sie eine klare Alternative zu dem bisherigen kommunistischen Regime. Sie wollten sich auch für ein schnelles Vereinigungstempo aussprechen. (...) Die Wähler hatten zu entscheiden, in welchem Tempo und in welcher Weise die Vereinigung erfolgt. Sie entschieden sich dafür, daß sie schnell und auf den bereits geprüften Grundsätzen im zweiten Teil Deutschlands erfolgen soll. Dieses Bedürfnis war stärker als die Befürchtungen vor einem radikalen Wandel. Deshalb hat die SPD, die mehr soziale Sicherheit versprach, eine Niederlage erlitten.

Sieger dieser Wahlen ist neben den Führern der ostdeutschen Rechten Bundeskanzler Helmut Kohl. Der Bundeskanzler wird einen unmittelbaren Einfluß auf den Lauf der Dinge bekommen. Seine Aufgabe wird es jetzt sein, den Willen der DDR-Wähler mit den Realitäten der internationalen Politik und den Interessen der Nachbarn Deutschlands zu vereinbaren.

Liberation

Keine Garantie für Kohl bei Bundestags wahlen:

Als die Ostdeutschen im vergangenen Mai über Ungarn in die Bundesrepublik flohen, sagte man, daß sie mit den Füßen abstimmten. Ohne ihnen nahetreten zu wollen, kann man sagen, daß die Mehrheit der Wähler in der DDR gestern mit dem Magen abgestimmt hat. Sie scheinen ein Aufgehen ihres Landes in der Bundesrepublik nicht zu fürchten. Vorausgesetzt, daß bald kein Kaufkraftunterschied mehr zwischen einem Ostdeutschen und einem Westdeutschen besteht. Auf der Grundlage dieses Versprechens hat Kohl gewonnen, aber es gibt heute keine Garantie dafür, daß er es so kurzfristig halten kann, wie seine ostdeutschen Wähler es sich vorstellen. Die Währungsunion ist nicht alles. Kohl steht jetzt vor seinen eigenen Wählern. Die Westdeutschen wollen zwar die Wiedervereinigung, aber ihre Begeisterung beim Zusammenbruch der Mauer ist durch die immer wiederkehrende Frage: „Was wird uns das alles kosten?“, stark geschmälert worden. Von seinem Triumph im Osten darf Kohl sich mit Recht eine Wiederbelebung seiner Popularität in der Bundesrepublik erhoffen. Aber um seinen Erfolg perfekt zu machen, wird er die widersprüchlichen Interessen dessen, was von den zwei deutschen Völkern noch übrig ist, miteinander in Einklang bringen müssen.

De Volkskrant

Einheit nur bei Sicherheit:

Die meisten Ostdeutschen sind davon überzeugt, daß der direkteste Weg zu Einheit und Wohlstand über die westdeutsche Regierung läuft. Sie gehen davon aus, daß ihr Schicksal in Kohls Händen liegt. Denn nur die Regierung in Bonn verfügt über das Geld, das nötig ist, die verfallene DDR zu sanieren. An der Wahlurne übersetzte sich das alles in eine Wahl für Kohl. (...) Es wird nun sicher zügig an der monetären und wirtschaftlichen Einheit zwischen Bundesrepublik und DDR gerarbeitet werden. Aber es bleibt zu hoffen, daß Bundeskanzler Kohl in all seiner Freude über das Wahlergebnis nicht vergißt, daß die Einheit nicht nur eine deutsche, sondern auch eine europäische Angelegenheit ist. Die deutsche Einheit kann auch für die Bürger der DDR nur dann fruchtbar sein, wenn sie in Übereinstimmung gebracht wird mit dem europäischen Streben nach mehr Zusammenarbeit und größerer kollektiver Sicherheit. Das schließt eine schnelle deutsche Vereinigung aus.

Tagesanzeiger

Das liberale Züricher Blatt:

Am Resultat der ersten Wahlen in der DDR gibt es nicht viel zu deuten. Die Menschen in diesem Land votierten gegen den Sozialismus und für die deutsche Einheit. (...) Vor allem aber waren diese Wahlen ein Triumph für die Demokratie. Den Betrachtern von außen fällt es allerdings etwas schwer, diesen Triumph ohne Vorbehalt mitzufeiern. Im Oktober letzten Jahres waren in Berlin, Leipzig, Dresden und anderen Städten der DDR mutige Leute auf die Straßen gegangen. Sie brachen das Eis auf, das jahrzehntelang auf dem Land lag, sie wichen auch nicht aus, als es auf den Straßen und Plätzen höchst gefährlich wurde. Und genau jene mutigen Menschen des Neuen Forums oder von Demokratie Jetzt, die den Stein ins Rollen brachten und nach einem dritten Weg suchten - genau diese Kreise hat der schrille Wahlkampf beiseite gefegt. Es erfolgte der flächendeckende Einfall westdeutscher Medienkonzerne, und was der nicht zustande brachte, glückte hauptsächlich dem Hauptwahlkämpfer Kohl (...).

Corriere della Sera

Das Meisterwerk Kohls:

Die Wahlen waren im Osten, aber ihr Triumphator sitzt im Westen. Wochenlang hat Kohl keineswegs nur wohlwollende Polemiken und Fragen ausgelöst, Sorgen auch in den Hauptstädten der Verbündeten verursacht, wurde verglichen mit einem Bulldozer wegen seines Ungestüms und seines hastigen Einigungsstrebens. Aber das Urteil an den Urnen hat gezeigt, daß der Kanzler mehr eine Lokomotive ist, hat seine Fähigkeit belegt, die DDR in das Ziel eines Groß -Deutschlands zu schleppen. Der umwerfende Erfolg der CDU ist nicht nur Ergebnis des von der Bonner Parteizentrale angeleiteten und generös finanzierten Wahlkampfs. Er ist ein verblüffender Beleg auch für (...) eine Reife, spontan gewachsen aus dem Fall der Mauer und politischer Spiegel jener Vernunft und jenes Gefühls, die noch immer jeden Tag 2.000 Bürger aus dem Osten veranlassen, mit den Füßen abzustimmen und in den Westen zu gehen.

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