: Gratulationen und Ängste
■ Die gesamtdeutsche Wende ist im Ausland mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden / EG-Kommissionspräsident Delors verlangt „politische Geste“ zu Kohls Europa-Engagement
Paris, Moskau, Washington u.a. (taz/afp) - Mit gemischten Gefühlen ist im Ausland der überraschende Wahlsieg des konservativen Bündnisses „Allianz für Deutschland“ aufgenommen worden. Die DDR-BürgerInnen hätten sich für eine schnelle Einführung der De-Mark und für eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten entschieden, hieß es in den benachbarten Hauptstädten. Treffsicher schickte die britische Premierministerin Margaret Thatcher ihr Glückwunschtelegramm zum Wahlsieg im Osten an den westdeutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, den im übrigen das gesamte Ausland als den eigentlichen Sieger der Volkskammerwahlen bezeichnete.
Verhalten fielen die Reaktionen in Polen aus. „Wir akzeptieren das Urteil der ersten demokratischen Wahlen in Osteuropa“, sagte der stellvertretende Pressesprecher der Regierung, Zbigniew Augustynowicz. Das deutsche Volk habe eine „souveräne Entscheidung“ getroffen. Zu den möglichen Folgen der konservativen Wende für Polen gab es keinen offiziellen Kommentar. Die Solidarnosc-Zeitung 'Gazeta Wyborcza‘ betonte gestern, daß Kohl nun einen „unmittelbaren Einfluß“ auf die künftige Politik Ost-Berlins nehmen könne. Wofür Kohl den Wahltriumph nutzen werde, bleibe zunächst offen, meinte ein polnischer Deutschlandexperte, der auch feststellte, daß die Frage der polnischen Westgrenze für den Wahlausgang in der DDR offenbar keine Bedeutung hatte.
Washington begrüßte die „historischen“ Wahlen. Die USA hätten seit langem die Bestrebungen der DDR-Bevölkerung unterstützt, mit freigewähltem Parlament und freigewählter Regierung über seine eigene Zukunft zu entscheiden, sagte eine Sprecherin des Weißen Hauses.
Unangenehm ist das Ergebnis für den französischen Präsidenten Fran?ois Mitterrand, der sich gerade mit dem Gedanken eines zwar vereinten, aber sozialdemokratischen Deutschlands angefreundet hatte. „Er hat sich für eine Niederlage Helmut Kohls eingesetzt und hat verloren“, schreibt die konservative Zeitung 'Le Figaro‘. Die deutsche Einheit werde die europäische Integration beschleunigen. Den „schnellen Weg“ zur deutschen Vereinigung hält jetzt auch der französische Außenminister Roland Dumas für „eine Tatsache“. Nun gelte es, ein Gleichgewicht zwischen dem deutschen Wiedervereinigungsprozeß und dem Aufbau Europas zu finden. Gleichzeitig müsse man auch die Probleme bewältigen, vor die die Wiedervereinigung die anderen europäischen Länder stelle.
In Rom bestätigte das Wahlergebnis längst gehegte Befürchtungen. Die ItalienerInnen wußten schon vor dem 18.März, daß „dies eine Wahl im Zeichen der Ökonomie ist„; und auf dieser Schiene bewegten sich gestern auch die Kommentare. Doch der Hinweis auf die „siegreiche Mark“ hat keinen hämischen Unterton - eher ist die Angst vor der „Vereinigungspartei in Ost und West“ ('Corriere‘) noch gestiegen: Politik kann man madig machen, Kultur durch Häme oder Kritik kleinkriegen, doch gegen Geld, erkennt Italiens Volksweisheit, ist kein Kraut gewachsen, „und davon haben die Westdeutschen selbst dann noch genug, wenn sie die DDR saniert haben“ ('L'Unita‘).
Skeptisch klang der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, der gestern morgen in einem französischen Rundfunk -Interview erklärte, die „schwierige Zeit für Kohl beginnt jetzt erst“. Die „Übergangsperiode zur Einheit muß unter Konsultierung und Zustimmung der EG-Partner“ ablaufen, sagte Delors und schlug vor, daß Experten der EG-Kommission bei jedem konkreten Schritt zur Einheit konsultiert werden. Denn die Eingliederung der DDR in die Bundesrepublik sei einem EG -Beitritt vergleichbar. Von Kohl wünscht Delors, daß er sein Europa-Engagement mit einer „politischen Geste“ bekräftige.
Leise Kritik am Wahlkampf kam gestern aus der Sowjetunion. In einer ersten Stellungnahme bezeichnte der Sprecher des Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, es als „anormal, daß Bürger eines anderen Staates an einem Wahlkampf teilgenommen haben“.
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