Die Lüge als Klamotte

■ Die „Stützen der Gesellschaft“ in Hamburg

Die ganze Bühne in eine Schräge verwandelt - das will sagen: hier ist eine Ordnung aus dem Lot geraten, die Welt steht Kopf, die Menschen balacieren auf der Kippe. Und die Attrappe eines Waschmittelkartons mit der Aufschrift „Endlich wieder Persil“ schräg an die Bühnenkante gerammt, signalisiert: wir sind im frühen Nachkriegsdeutschland. In diesem Apriori soll sich also Ibsens erstes realistisches Drama, inzwischen mehr als hundert Jahre alt, entwickeln.

Die Geschichte ist eine arge Kolportage. Konsul Bernick, Werftbesitzer und allmächtiger Pate der Stadt, muß mit einem Schatten leben: Der Bruder seiner Frau hat vor Jahren eine Schauspielerin geschwängert und ist mit dem gestohlenen Geld aus der Firmenkasse in die Vereinigten Staaten geflüchtet. Dessen Stiefschwester - die Geliebte des Konsuls - ist ihm dorthin gefolgt. Nun tauchen die beiden schwarzen Schafe unerwartet wieder auf, und die Schatten werden lebendig. Man erfährt - über äußerst dramatische Verwicklungen -, daß der Konsul der wirklich Schuldige ist, er hat die Actrice geschwängert, der Diebstahl wurde fingiert, um den drohenden Konkurs der Werft abzuwenden, die Geliebte wurde verlassen, einer Geldheirat wegen, der gutmütige Schwager hat alles auf sich genommen, um den Konsul zu decken. Jetzt will er auspacken. Werftchef Bernick, um den lästigen Zeugen und möglichen Zerstörer seiner Existenz loszuwerden, sorgt dafür, daß er auf einem gerade reparierten Schiff in die USA heimkehrt, einem Schriff, das nur zum Schein repariert wurde... Und darauf hat sich auch der Sohn Bernicks versteckt um auszureißen. Aber am Ende Glück und großes Finale.

Das Thema des Abends wäre also die Lüge. Wie gehen Menschen damit um, wenn die Wahrheit plötzlich vor ihnen steht? Und: Wenn die Stützen der Gesellschaft sich als so wurmstichig erweisen, wie ist es dann um diese Gesellschaft bestellt? Die Inszenierung von David Mouchtar-Samorai beantwortet diese Fragen nicht, ja sie stellt sie noch nicht einmal.

Die Lüge, die private wie die gesellschaftliche, ist ja niemals nur Lüge, meist ist sie die Summe von unzähligen Halb-Wahrheiten, oft nur Abwesenheit von Wahrheit. Lügen haben deshalb ein so langes leben, weil sie - je länger sie leben - fast zur Wahrheit werden. Die Feststellung, „So war es wirklich“, bläst ihnen keineswegs das Lebenslicht aus. Die Inszenierung kümmert sich nicht um diese noch durchaus aktuellen Mechanismen, sie ist an dem zähen Dickicht des wirklichen Lebens nicht interessiert, sondern verliebt in die verstaubte Story, der sie mit raschen Auf- und Abtritten, am liebsten über die rückwärtige steile Bühnenkante, Beine macht. Unterwegs hinterläßt sie dann hin und wieder ein Genrebildchen oder verirrt sich in eine kabarettistische Pointe. Die Schauspieler - unter anderem Marlen Diekhoff, Christa Berndl, Peter Lerchbaumer, Albert Kitzel, Mathias Fuchs - können das Unternehmen nicht retten. Sie scheinen vom Regisseur zu Beginn entweder auf schwarzen oder die weißen Felder des Spiels gestellt worden zu sein, und so ziehen sie auch: Das angeblich schwarze Schaf kommt daher wie ein Erzengel in der Biedermaske von Freddy Quinn, der wirkliche Bösewicht strampelt sich ab, als ob er gerade einen Crash-Kurs der Industrie- und Handelskammer zur Imagepflege des Unternehmers absolviert hätte, seine Frau ist eine Dulderin, die Schwester eine Märtyrerin, die ehemalige Geliebte eine verständnisvolle Kameradin. Die Lüge erscheint wie ein Kleidungsstück, das man abends ablegt, nicht wie ein Hautpilz, den man nicht mehr loswird. Selbst dem Konsul gelingt es zum Schluß, seine Schuld öffentlich zu machen und noch damit den größten Reibach zu machen. Die Inszenierung läßt ihn auf die Seite der Guten entkommen, anstatt mit seinem gelungenen Manöver den letzten Beweis zu führen, daß eben nicht nur die Stützen der Gesellschaft, sondern der ganze gesellschaftliche Bau verfault ist.

Ja, überhaupt - die Gesellschaft. Es scheint so einfach, eine norwegische Provinzstadt von 1877 in eine deutsche Stadt des Wirtschaftswunders anno 1953 zu verwandeln, indem man die Namen ins Norddeutsche verändert, statt mit einem Eisenbahnprojekt den Konsul mit einer Wohnsiedlung für Tausende Heimatvertriebene und Flüchtlinge spekulieren zu lassen, der Siedlung den Namen „Neue Heimat“ zu geben usw. undsofort. Die Probleme des Bürgertums am Ende des 19.Jahrhunderts bleieben dabei auf der Stecke, ohne daß dafür die Konflikte der durcheinandergeworfenen Nachkriegsgesellschaft gefunden und gestaltet würden. Statt Norwegen ein Niemandsland. Die Angriffe auf dessen verkommene Moral, die Skrupellosigkeit seiner Unternehmer, den Wankelmut seiner Arbeiter, die Denunzianten- und Henkermentalität fast aller seiner Bewohner betreffen denn auch keinen im Parkett. Nur als zum Schluß - sozusagen als allerletzte Chance, zu begreifen, daß wir mit alledem gemeint sein könnten - die deutsche Nationalhymne erklang, verbat sich das Publikum, das bisher dem Treiben amüsiert gefolgt war, die plumpe Anspielung.

„Weder die Moralbegriffe noch die Kunstformen haben eine Ewigkeit vor sich“, hatte Ibsen früh notiert. Er wußte um die Verfallszeit auch seiner Stücke. Dem Regisseur ist das wohl nicht entgangen. Also bestellte er sich bei Gottfried Greifenhagen und Daniel Karasek eine Aktualisierung - ein Zeitstück. Bei aller Hochachtung vor dem Mut der Lieferanten: das ging daneben, deutlich.

Hannes Heer

Die nächsten Aufführungen: 16., 23. und 30.März im Hamburger Schauspielhaus