: Die letzten Falken vom Alex
■ Mitten im Zentrum von Ost-Berlin lebt einsam ein Wanderfalkenpärchen - und jagt alles, was um die Marienkirche herumfliegt / Pestizideinsatz in der Landwirtschaft beschleunigt Aussterben
Direkt unter der Kuppel der Marienkirche am Alexanderplatz hat sich ein Wanderfalkenpaar eingenistet. Die Greifvogelart galt bislang in der DDR als ausgestorben, doch jetzt leben wieder sieben Paare dort - und zwei davon in Ost-Berlin. Um die Fortpflanzung dieser Vögel zu fördern, hat die ehrenamtliche Bezirksarbeitsgruppe „Greifvogelschutz“ extra in schwindelerregender Höhe an der Marienkirche einen Brutkasten angebracht. Seit 1973 hat in der DDR kein Wanderfalke mehr gebrütet. In Osteuropa ist der Greifvogel vollkommen ausgestorben.
Der schiefergraue Vogel, ungefähr in der Größe einer Krähe, war ursprünglich weltweit verbreitet. Hauptbeute des sogenannten Flugjägers sind Tauben und Zugvögel. Da ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich eines der beiden Wanderfalkenpaare mitten im Großstadtrummel angesiedelt hat, „denn auf dem Alexanderplatz finden die Raubvögel optimale Lebensbedingungen vor“, wie Paul Sömmer vom „Greifvogelschutz“ mitteilt. Drei Küken sind schon ausgeflogen.
Für die Felsenbrüter, die bisweilen auch mit Nischen in Gebäuden Vorlieb nehmen, „ist das Nahrungsangebot hier äußerst günstig“, meint Paul Sömmer. Eigentlich sei der Wanderfalke ja ein Tagjäger, da aber der Alex auch am Abend gut beleuchtet werde, habe sich das Männchen auf nächtliche Jagdzüge spezialisiert. Von der Spitze des Fernsehturmes stürzt es auf die Beutevögel herab, die ahnungslos den Scheinwerferkegel des Turmes durchfliegen. „Wenn ein Zugvogel 50 Meter unter ihm durchfliegt, hat er keine Chance“, sagt Sömmer. Zeitweise kann der Wanderfalke eine Spitzenfluggeschwindigkeit von bis zu 200 Stundenkilometern erreichen.
Das Aussterben der Wanderfalken, die unter Naturschutz stehen, hat mehrere Ursachen. Die im nördlichen Teil Europas lebenden Wanderfalken ziehen in ihrem ersten Lebensjahr nach Südwesten. Dabei, so Sömmer, würden bis zu 60 Prozent der Jungvögel auf der Jagd abgeknallt. „Dieser völlig sinnlose Vogelmord“ führe dazu, daß die Wanderfalken ständig in der „Negativbilanz“ seien.
Zum anderen bestehe ein auffälliger Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft und dem Aussterben der Wanderfalken. „Die bleiben einfach ohne Nachwuchs“, sagt Sömmer. Die Eierschale werde zu dünn, oder sie würden überhaupt nicht mehr brüten. „Die haben den Fingerzeig gegeben, daß die Chemie nicht nur zum Nutzen ist.“
Zum Vergleich: In der Bundesrepublik leben heute an die 120 Wanderfalkenpaare, in West-Berlin jedoch kein einziger in Freiheit. Paul Sömmer hofft, daß weitere Wanderfalken, die in West-Berlin künstlich aufgezogen werden, irgendwann zum Alex übersiedeln.
Julia Schmidt
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