: Wohnungslos- Eine Betroffene benennt Ursachen und Folgen
Eine Betroffene benennt Ursachen und Folgen
Wenn über Wohnungslose berichtet wird, so stehen meistens Drogen- und Alkoholabhängige im Vordergrund, sowie psychisch Kranke. Daß ein relativ hoher Anteil von Obdach- und Heimbewohnern in der Psychitarie landet (aus meinem Wohnheim fünf Frauen innerhalb von eineinhalb Jahren), wird gerne als Beweis dafür gesehen, daß die eh alle psychisch geschädigt und damit selber schuld sind. Doch wann liest man schon über die Lebensbedingungen in solchen Häusern?
Da gibt es keine Einzelzimmer, mehrere Personen teilen einen Raum - Leute, die einander nicht ausgesucht haben -, jung und alt, gesund und krank, Alkoholiker und Behinderte, alles kommt zusammen.
Es sind keineswegs nur Trinker und Irre, die im Obdach landen. Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen, Ausländer und Aussiedlerinnen, Frauen aus dem Frauenhaus, die keine Wohnung gefunden haben, sowie Frauen, die vor ihren gewalttätigen Männern geflüchtet sind, ohne das Frauenhaus durchlaufen zu haben, sammeln sich dort. Frauen, die mit Männern zusammengelebt haben, ohne verheiratet zu sein, werden von den Typen einfach auf die Straße gesetzt, wenn sie ihnen lästig werden. Häufig ist der Grund dafür eine Schwangerschaft!
(...) Im Obdach finden sie sich dann mit Frauen wieder, die aus den unterschiedlichsten Gründen wohnungslos wurden. Die Habe muß in einem schmalen Spindschrank verstaut werden. Zum Vergleich empfehle ich die Jugendherberge, da ist es ähnlich eng. Nur daß in einer Jugendherberge nur einmal übernachtet wird und nicht jahrelang gewohnt.
Und weil das Wohnen unter solchen Umständen sehr anstrengend ist, entwickeln die meisten Bewohnerinnen den Hang, es sich einfacher zu machen - manchmal auf Kosten der anderen. Weil das Geschirr, Besteck, Seife, Handtücher und andere Gegenstände des täglichen Bedarfs im Schrank verschlossen und sie zu bequem sind, den Schlüssel zu suchen, wird eben das Eigentum der Nachbarin benutzt zurückbringen ist nicht selbstverständlich. Es ist kein Stehlen, nur ein Ausleihen, ohne zu fragen - aber die Inhaberin des kostbaren Besitzes kann ihre Sachen suchen. Andere wiederum haben einen Aufräumtick und müssen alles sofort entfernen, was irgendwo liegt oder steht. Wo ist meine Kaffeetasse, mein Notizblock, mein Kugelschreiber? Eben war er noch da...
Stell dir vor, du kannst nicht mal pinkeln gehen, ohne daß etwas verschwindet! Oder du mußt dein Notizbuch mit aufs Klo nehmen. Sonst bist du selber schuld, wenn es weg ist. Wohnungslose sind an allem selber Schuld.
An jedem anderen Ort würdest du mit solch mißtrauischem Verhalten sofort anecken und als „psychisch auffällig“ gelten. Wer sich erst mal auf die Bedingungen des Obdachs eingestellt und gelernt hat, sich entsprechend zu verhalten, der fällt überall auf! Natürlich kann es passieren, daß Menschen, die jahrelang unter solchen Bedingungen gelebt haben, auch mal ausrasten. Auch wenn deine Persönlichkeit nicht auf den Besitz von Eigentum aufgebaut ist. Das ständige Hüten selbst der alltäglichsten Dinge ist Streß!
(...) Gerade für Leute, die gerne einen lässigeren Umgang mit Menschen und Dingen pflegen würden, ist eine solche Lebensform eine ständige Vergewaltigung ihrer wirklichen Bedürfnisse. Ich nehme an, daß deshalb so selten etwas über die Lebensbedingungen in Obdächern und Wohnheimen berichtet wird, weil Artikel über Wohnungslosigkeit in der Regel nicht von Wohnungslosen geschrieben werden, sondern von Leuten, die selbst nicht betroffen sind und die Bedingungen solcher Häuser nicht kennen. (...)
Bedenkt in diesem Zusammenhang, daß aufgrund der Explosion der Mieten heute wirklich jedeR im Obdach landen kann, nicht nur Trinker und Penner! In meinem Wohnheim leben sogar Frauen, die berufstätig sind! Nicht mal die kriegen eine Wohnung. (...)
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