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Rhapsodische Chroniken

■ Über das Werk von Boris Pilnjak anläßlich einer Neuausgabe seiner Erzählungen

Inga Buhmann

Vielleicht ist erst jetzt die Zeit gekommen, um dieVielschichtigkeit des Werkes von Boris Pilnjak begreifen zu können, obwohl in den sechziger Jahren fast alles von ihm in deutscher Übersetzung vorlag.

Die Eltern von Boris Pilnjak (eigentlich: Boris Vogau) standen in den achtziger und neunziger Jahren den russischen Populisten nahe. Der Vater, ein Landtierarzt, stammte von wolgadeutschen Siedlern ab, die Mutter, die das Lehrerseminar in Moskau besucht hatte, kam aus einer slawisch-tartarischen Kaufmannsfamilie. Damit sind wesentliche Momente des Werkes von Pilnjak bestimmt: die populistisch-anarchistische Tradition der Narodniki und Sozialrevolutionäre, die im russischen Bauern den eigentlichen Motor für die Revolution sahen und die Hoffnung hatten, die Anknüpfung an die traditionellen Formen der Selbstverwaltung würden zu einer besseren und gerechteren Welt führen - und der Zusammenprall der europäischen und der asiatischen Kultur, der Slawophilen und der Westler, ein Konflikt aus dem 19.Jahrhundert, der jetzt in der UdSSR neue Brisanz erhält.

Mit 28 Jahren wird Pilnjak durch seinen Roman Das nackte Jahr (1922, deutsch 1981 bei Suhrkamp) schlagartig berühmt. In Stil und Inhalt an die Silberne Taube von Andrej Belyi und an Alexej Remisow anknüpfend, doch in seiner fragmentarischen Komposition weit über die Symbolisten hinausgehend, schafft Pilnjak ein Werk, das den Umsturz, den Zusammenprall der alten mit der neuen Welt so widersprüchlich und gewaltsam zeigt, wie er tatsächlich war. Eine rhapsodische Chronik über ein ländliches Gebiet unweit von Moskau, über den Untergang einer aristokratischen Gutsfamilie, über anarchistische Kommunen, ländliche Sektierer, über heilkundige und sinnenfrohe Frauen aus dem Volk, über brutale Nutznießer der chaotischen Zustände und schließlich über „die Kommunisten in Lederjacken“, die aus der Stadt kommen und rigoros Ordnung schaffen.

Sein Stil ist der Montagetechnik des Revolutionsfilmes von Wertow und Eisenstein verwandt. Der Roman begründete eine Schule: den Pilnjakismus, den „Schneegestöberstil“. In seinem Wortschatz vereinigt Pilnjak Archaismen, Umgangssprachliches, Dokumentarisches, regionale und gebildete Sprache. Für ihn war das wahre, wilde und urtümliche Rußland der anarchistischen Bauernrevolte, das Rußland von Stenka Razin und Pugatschow wiedergekehrt. Die Kluft zwischen dem slawischen anarchistischen Maximalismus (alles Land den Bauern in Selbstverwaltung) und den geplanten, westlich beeinflußten zentralistischen Ordnungsanstrengungen der Kommunisten blieb jedoch ein unlösbarer Konflikt.

Der Episodenstil der Romane Das nackte Jahr und Maschinen und Wölfe (1925, die deutsche dtv-Ausgabe von 1962 ist vergriffen) war der Stil des Aufbruchs und des Umsturzes. Später kehrte Pilnjak in seinen Erzählungen zu einer mehr handlungsorientierten Kompositionsform zurück.

Jetzt liegt bei Fischer eine erste Auswahl der Erzählungen in der neuen Übersetzung von Barbara Conrad vor, Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond. Wir verdanken es jedoch Hans Magnus Enzensberger, daß er Pilnjak durch die Herausgabe von Mahagoni (Erzählungen, 1988 Greno, jetzt Eichborn) einem breiteren Publikum zugänglich machte. Er übernahm leider alte, zum Teil allzu behäbige Übersetzungen wie die von Valerian Lebedow. Um so wichtiger sind die präzise Neuübersetzung und sorgfältigen Anmerkungen der Herausgeberin Barbara Conrad.

Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond und Mahagoni sind jetzt auch zum ersten Mal seit fünfzig Jahren wieder in der UdSSR veröffentlicht worden und haben heftige Diskussionen ausgelöst. Die Geschichte... (1926) berichtet von einem General der Roten Armee, der krank wird und auf Befehl des Zentralkomitees operiert werden soll. Gawrilow fühlt sich jedoch bald wieder gesund und will dem Skalpell ausweichen, doch schließlich beugt er sich der mechanistischen Parteimaschine und dem „unbeugsamen Mann aus Stahl“, in dem unschwer Stalin erkannt wurde, und stirbt bei der Operation.

Pilnjak war durch den Tod von Michail Frunse, dem Kommandeur der Roten Armee, zu der Erzählung angeregt worden. Sie rief einen Sturm der Entrüstung hervor. Die Zeitung, in der sie erschienen war, entschuldigte sich öffentlich, der Verantwortliche wurde degradiert, Pilnjak widerrief. Er hatte jetzt und auch später nicht die Stärke von Samjatin und anderen Schriftstellern, dem Druck standzuhalten. Trotzdem wurde er 1937 verhaftet und verschwand im Lager. 1956 wurde Pilnjak rehabilitiert, und 1978 erschienen in der UdSSR Das nackte Jahr und einige Erzählungen, jedoch nicht die obengenannten und auch nicht der Roman Maschinen und Wölfe. Dieser Roman stellt sehr viel drastischer die Hungersnot der Bauern durch die zwangsweise Eintreibung von Lebensmitteln und die Vernichtung der bäuerlichen Kultur durch brutale Industrialisierung dar als Das Nackte Jahr. Nach der Veröffentlichung von Mahagoni (1929) wurde Pilnjak aus allen literarischen Vereinigungen wegen „reaktionärer Philosophie“ ausgeschlossen.

In Mahagoni wird eine verschlafene Provinzstadt geschildert. Doch die Industrialisierung schreitet voran. Aus allen Kirchen werden auf Befehl die Glocken herabgeholt, um sie der Metallindustrie zuzuführen. Die eigentlichen Helden der Erzählung: Bettler, Landstreicher, Hellseher, Scharlatane, Sonderlinge, enttäuschte Revolutionäre und mutige, unkonventionelle Frauen. Sie sind die einzigen, die in einer durch und durch brutalisierten und korrupten Umwelt Widerstand leisten.

“'Weine, Akim! Weine auf der Stelle um den verlorenen Kommunismus!‘ schrie Iwan auf und drückte seine Hände an die Brust und senkte den Kopf, wie es die Betenden tun. 'Ja, ja, ich weine, Onkel Iwan‘, antwortet Akim“, ein Anhänger Trotzkijs, seinem wahnsinnigen Onkel, der sonst als Anarchist in einer Kommune gelebt hatte.

Das, was Pilnjak am wenigsten verziehen wurde, war seine scharfe Kritik an der Korruptheit und der Cliquenwirtschaft der Parteispitzen, die jegliche Ideale über Bord geworfen hatten, woraus die katastrophale Wirtschaftsführung resultierte. Das alles wird in Mahagoni schonungslos und mit wahnsinniger Trauer dargestellt, doch erst heute kann darüber öffentlich gesprochen werden, obwohl es seit 60 Jahren bekannt ist.

Pilnjak verzweifelte an der Gegenwart, die den sozialistischen Realismus forderte, aber kein wahres Wort vertrug. Kein Wunder, daß für ihn wie für viele andere russische AutorInnen vor und nach ihm die Wahnsinnigen und mutige Frauen die letzten Hoffnungsträger in einer kaputten Welt darstellten.

Dies düstere Geschichtsbild ist Pilnjak so übelgenommen worden, daß auch seine späteren Versuche, mehr im Sinne der Partei zu schreiben und ein Loblied der Industrialisierung anzustimmen wie in Die Wolga fließt ins Kaspische Meer (1930 (also bereits ein Jahr nach Schonungslosigkeit und wahnsinniger Trauer, d.S.)) nichts mehr daran änderten. Er kam wie die meisten seiner Schriftstellerfreunde im Lager um.

Boris Pilnjak: Die Geschichte vom nichtausgelöschten Mond. Erzählungen. Aus dem Russischen von Barbara Conrad. Fischer 1989, 287 Seiten, 34 DM

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