Zutrauen in die Kraft des eigenen Volkes

Die Ereignisse in Litauen haben die Aufmerksamkeit der Welt von der allgemeinen Demokratisierungseuphorie in den Staaten Osteuropas abgelenkt. Handelt es sich nur um Theaterdonner, oder möchte Präsident Gorbatschow seine ihm erst kürzlich gewährten Kompetenzen ausloten? Wird es bei den Zusagen von sowjetischen Staatsmännern bleiben, daß im Baltikum eine Gewaltanwendung ausgeschlossen ist, oder müssen wir uns an die Aussage von Gorbatschow gegenüber Senator Kennedy halten, daß Gewalt dann anzuwenden ist, wenn Menschenleben in Gefahr sind?

Die Entscheidung der litauischen KP, aus der KPdSU auszutreten und eine selbständige Parteiorganisation zu bilden, war sicherlich „harter Tobak“ für Moskau. Dementsprechend hart war auch die Reaktion. Die Entscheidung der KP Estlands am letzten Wochenende, aus zwei Parteifraktionen zwei Zentralkomitees zu bilden und den Bruch mit Moskau nicht ganz zu vollziehen, war vielleicht eleganter. Ist tatsächlich die Situation in den zwei baltischen Staaten so unterschiedlich, daß sich diese Differenzierung rechtfertigen läßt? Die demographische Situation Litauens unterscheidet sich von derjenigen Estlands dadurch, daß in Estland mindestens 35 Prozent der Bevölkerung zu den Zuwanderern aus der UdSSR (hauptsächlich aus Rußland) gerechnet werden, in Litauen nur circa 15 Prozent. In Lettland wird man über 40 Prozent zu den Zuwanderern rechnen müssen. Litauen konnte ganz einfach anders handeln als Estland, als dort die Wiederherstellung der Unabhängigkeit proklamiert wurde, weil wichtige Staatsorgane, wie zum Beispiel das Innenministerium und auch der KGB in litauischer Hand sind.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, festzuhalten, daß weder Litauen noch Estland und Lettland vom Austritt aus der UdSSR sprechen. Sie verlangen nur die Wiederherstellung der Eigenstaatlichkeit, der Unabhängigkeit, der Völkerrechtssubjektivität. Daher sind die derzeit im Kongreß der Volksdeputierten geführten Debatten um ein Austrittsrecht der Unionsrepubliken nicht relevant. Die Gesetzesvorlage würde einen Austritt ohnehin unmöglich machen, weil es außer einem Referendum mit wenigstens Zweidrittel-Stimmenmehrheit für Austritt (von Litauen leicht, von Estland schwer, von Lettland kaum zu erfüllen) auch der Zustimmung des Kongresses der Volksdeputierten und einen für die Unionsrepubliken kaum anzunehmenden Finanzausgleichs bedarf, der nicht die Schäden in Betracht zieht, die den Republiken durch die Stalinschen Verschleppungen oder durch ökologische Mißwirtschaft entstanden sind.

Der Schlüssel zum Verständnis der baltischen Frage aus der Sicht der baltischen Völker liegt in der kurzen Geschichte ihrer Eigenstaatlichkeit sowie in der bisherigen offiziellen Darstellung ihrer Einverleibung in die UdSSR im Jahre 1940. Mit viel Mühe wurde dem Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR am 23.Dezember 1989 die Erklärung abgerungen, daß die geheimen Zusatzprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt tatsächlich existieren und daß ihr Inhalt völkerrechtswidrig war. Daß auch die Einsetzung sowjetfreundlicher Regierungen völkerrechtswidrig war, wird bis heute nicht zugestanden. Statt dessen können wir immer noch lesen, daß die baltischen Staaten nach freien Wahlen im Sommer 1940 Parlamente bildeten, die dann wiederum freiwillig den Beitritt zur UdSSR beantragten, daher auch rechtmäßig in diese aufgenommen wurden.

Stolperstein Litauen

Die Berichterstattung der Zentralpresse ist immer dann besonders einseitig, wenn zentrifugale Kräfte drohen, die „Einheit“ des Vaterlandes zu zerstören. In der russischsprachigen und daher auch dem Normalverbraucher in der UdSSR verständlichen Zeitung 'Sovetskaja Latvija‘ erschien ein Brief, unterzeichnet von 79 Kommunisten, Widerstands- udn Frontkämpfern: „Wir kämpften für ein kommunistisches Lettland.“ Der Lüge der „Freiwilligkeit“ schloß sich noch die Behauptung an, die Bevölkerung Lettlands hätte die Rote Armee, als sie ihre Garnisonen bezog, begeistert empfangen.

Man darf die Einstellung der baltischen Völker ihrem großen Nachbarn Rußland gegenüber nicht als kleinbürgerlichen Chauvinismus abtun, wie es aus manchen Kommentaren im Westen hervorgeht. Auch ist die Auffassung irrig, diese Völker würden mit ihren übermäßigen Forderungen den natürlichen Reformprozeß in der UdSSR nicht nur verlangsamen, sie könnten ihn dadurch zu Fall bringen, daß Gorbatschow „über sie stolpert“. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Volksfronten in Estland und Lettland und die Sajudis in Litauen schrieben sich vom ersten Tag die baldige Verwirklichung der Perestroika auf die Fahnen, aber sie sehen als größte Bremser dieser Entwicklung die Großbetriebe an, die unter direkter Unionsverwaltung stehen. Trotz des Gesetzes des Obersten Sowjets vom 27.11.1989 über die „wirtschaftliche Selbständigkeit der Litauischen, Lettischen und Estnischen SSR“ sind sie noch immer nicht in die Kompetenz der Unionsrepubliken übergeben worden.

Die Sorge der baltischen Völker um ihre Zukunft gilt dem Weiterbestehen ihrer nationalen Eigenart und Identität. Dafür werden Sprachgesetze, Wahlgesetze und bald auch Staatsangehörigkeits- und Einwanderungsgesetze sorgen. Sie schließt wirtschaftliche Sorgen ein, aus denen ein Ausweg nur in einem marktorientierten System unter Einführung des Privateigentums gesehen wird. Die Sorge der baltischen Völker schließt auch das Umweltproblem ein, da die Allunionsbetriebe bisher mit ihrem Industriemüll verbrecherisch leichtsinnig umgegangen sind. Ein Slogan aus Estland verdeutlicht dies: „Bei uns produzieren russische Arbeitskräfte aus russischen Rohstoffen Produkte für Rußland, der Profit geht ebenfalls nach Rußland und was uns bleibt, ist bestenfalls der Industriemüll.“

Die baltischen Völker sind nicht gegen ein europäisches Haus, nur wollen sie dort nicht als Untermieter der UdSSR, sondern als Hauptmieter wohnen. Die Machtfülle, welche Präsident Gorbatschow sich am 14.März vom Kongreß der Volksdeputierten zuteilen ließ, ist den baltischen Völkern zu unheimlich. Zu nahe liegt noch die Zeit, als Stalin in zwei Tagen Zehntausende von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer „feindlichen“ Klasse nach Sibirien deportieren ließ.

Zutrauen hat man in die Kraft des eigenen Volkes, wirtschaftliche Schwierigkeiten überwinden zu können. Das Rad der Geschichte läßt sich nicht zurückdrehen, haben große kommunistische Wahrsager geschrieben. Die Unrichtigkeit dieser deterministischen These wurde uns in den letzten sechs Monaten vor Augen geführt. Es ist nur zu hoffen, daß die Sowjetunion nicht ihre Wahrheit mit Brachialgewalt durchsetzen wird. Auch wenn die Kompetenzen des neuen Staatspräsidenten zur Erklärung des Ausnahmezustandes jetzt bedeutend eingeschränkt sind, er kann „Maßnahmen ergreifen zum Schutz der Souveränität der UdSSR (aber auch der Unionsrepubliken, sic!), der Sicherheit und der territorialen Integrität des Landes“. Diese Machtfülle könnte leicht zum Mißbrauch verleiten, und Gorbatschow hat einige Male bewiesen, daß er seine Meinung sehr wohl auch mit Kanonendonner kundtun kann.

Henn-Jüri Ujbopuu

Der Autor, geb. 1929 in Estland, ist Völkerrechtler an der Uni Salzburg