: 65 V-Leute bespitzelten AL
■ Pätzold wurde belogen: AL-Bespitzelung noch unverschämter als bisher angenommen
Die Alternative Liste (AL) in Berlin ist vom Landesamt für Verfassungsschutz in weitaus größerem Ausmaß überwacht worden, als bisher bekannt war. Innensenator Erich Pätzold (SPD) erklärte gestern vor dem Ausschuß für Verfassungsschutz im Abgeordnetenhaus, insgesamt 65 V-Leute und Informanten hätten seit Gründung der Partei 1978 für das Landesamt Berichte über die AL angefertigt. Er habe davon erst vorgestern erfahren und sei „ziemlich betroffen“.
Offenbar wurden die Innenverwaltung und die Leitung der Verfassungsschutzbehörde aus dem Amt heraus über das Ausmaß der Überwachung getäuscht. In einem im November 1989 veröffentlichen Bericht einer vom Innensenator eingesetzten Projektgruppe zur Untersuchung von Fehlentwicklungen beim Verfassungsschutz war von zwölf V-Leuten die Rede gewesen.
Pätzold sagte dazu, einzelne Vorgesetzte im Landesamt begriffen heute noch nicht, „was die Wahrheit ist“. Pätzold kündigte weitere Untersuchungen an.
Entwarnung in einem anderen Fall: Die linksradikale „Kreuzberger Liste“, zu deren Gründung im April 1988 aufgerufen worden war, wurde nicht vom Verfassungsschutz gesteuert. Zu diesem Ergebnis kommt der Bericht der Projektgruppe - räumt aber auch hier den Einsatz von drei V -Leuten ein. SPD und AL hatten seinerzeit vermutet, der Verfassungsschutz sei in die Aktivitäten der „Kreuzberger Liste“ verstrickt, um die AL bei den letzten Wahlen zur Kreuzberger BVV zu schwächen.
Die AL-Abgeordnete Lena Schraut sprach von einem „Skandal“ und nahm den Bericht zum Anlaß, erneut eine Abschaffung des Verfassungsschutzes zu fordern. Die Akten des Landesamtes zur AL sollten nach ihrer Ansicht dem Landesarchiv überstellt werden, um nach Ablauf von Sperrfristen Historikern „diesen zeitgeschichtlich bedeutenden Abschnitt der jüngeren Berliner Zeitgeschichte zu erhalten.“ Schraut: „Innensenator Pätzold muß diesen Augiasstall endlich ausmisten. Ein Geheimdienst läßt sich nicht reformieren - er muß abgeschafft werden.“
taz/dpa
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