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Oft genügt ein Anruf

■ Mit dem estischen Komponisten und Kulturminister Lepo Sumera sprach Irena Maryniak

Lepo Sumera ist nicht nur ein hochrangiger offizieller, sondern auch ein international anerkannter Künstler. Im November 1989 nahm er am New-Beginnings-Kunstfestival in Glasgow teil und brachte ein neues Orchesterwerk mit, das „Räume“ freiläßt für musikalische Beiträge von vier Schulkindern der (jeweiligen) Stadt. Journalisten erklärte er, dies sei seine Methode, die „Berliner Mauer“ einzureißen, die zwischen den Komponisten und ihrem Publikum stehe.

Wir trafen uns in einer geräumigen Wohnung im Zentrum Glasgows am Tag nach der Premiere seines Werkes. Lepo Sumera ist groß und schlaksig und ergänzt seine politische Reputation aufs schönste durch lässigen Umgang. Im Januar 1989 wurde er als erster nicht parteigebundener Bürger der Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg in ein Ministeramt berufen.

Auf die Frage nach Veränderungen durch die Perestroika in Estland zuckt er mit den Schultern. In seiner Republik würde die Umstrukturierung bereits seit zehn Jahren geübt, sagt er. Die einzige Verbesserung, die die Gorbatschow-Ära gebracht habe, sei die größere Reisefreiheit. In der Vergangenheit hatten er und seine Musikerkollegen größte Schwierigkeiten, an Aufführungen im Ausland teilzunehmen. Viele der besten Komponisten seien deshalb außer Landes gegangen.

Er erinnert an den Ausschluß von Arvo Pärt, dem bekanntesten estischen Komponisten, aus der Komponistengewerkschaft nach seinem Weggang in den Westen 1980. „Jemand rief aus Moskau an. Pärt könne nicht länger Mitglied der Gewerkschaft bleiben, da er das Land verlassen habe. Keiner fragte, warum. Das wäre schließlich das einfachste von der Welt gewesen.“

Wer hatte angerufen? Sumera weiß es nicht. „Nennen Sie es 'Telefonherrschaft‘, wenn Sie wollen. Irgendwer ruft von irgendwo an, und irgend jemand gibt die Nachricht weiter. Daraus ergibt sich eine Kette, und am Ende ist es unmöglich herauszufinden, von wem genau die ursprüngliche Instruktion stammt. Keiner weiß, wer das Ding in Bewegung gesetzt hat.“

„Telefonherrschaft“ ist ein nach wie vor funktionierendes Zensursystem, das auch heute noch Künstler, Schriftsteller und Journalisten treffen kann. Die offizielle Zensurbehörde „Gavlit“ hat sich in letzter Zeit im Hintergrund gehalten („Keine Ahnung, was Gavlit überhaupt noch tut“, sagt Sumera), aber ein Parteifunktionär, der an passendem Ort seine Stellung hält, kann immer noch einfach den Hörer abnehmen und Zeitungen abverlangen, daß bestimmte Artikel nicht erscheinen. Ein Herausgeber, der mit der Partei verbunden ist, wird sich eher davon einschüchtern lassen. Journalisten jedoch, die mit der Partei nichts zu tun haben, sind weniger in Gefahr. „Man kann ihnen einfach sagen, daß sie ihre Spielchen untereinander spielen sollen - und dann wird auch meist nichts weiter passieren. Sie können dich schließlich nicht vor Gericht bringen. Sie können dich natürlich schneiden, aber das ist eine andere Sache.“

Wie ist dann zu erklären, daß ein Journalist wie Madis Jurgen, der eine enthüllende Artikelserie über die Rote Armee geschrieben hatte, als Reaktion prompt eingezogen wird? Auch der Herausgeber von 'Noorte Hääl‘, der Zeitung, in der Jurgens Artikel erschienen waren, ist im Juli 1989 vom Militär verhört und eingeschüchtert worden (siehe auch taz-Index vom 25.11.1989).

„Es gibt noch immer Kräfte, die verhindern wollen, daß bestimmte Informationen an die Öffentlichkeit kommen“, antwortet Sumera, „wir müssen mit ihnen arbeiten.“ Seiner Meinung nach hat die Armee Jurgen ursprünglich vor Gericht zitieren wollen. Als jedoch klar wurde, daß sie den Fall verlieren würde, versuchte sie, ihn und 24 weitere abtrünnige Journalisten einzuziehen. Diese Geschichte wurde von westlichen Medien aufgenommen und schließlich, Ende Oktober, auch in Estland publik gemacht. Seitdem hat man die Journalisten offenbar in Frieden gelassen.

Ein heikles Thema, so Sumera. Die sowjetische Armee hat bis heute ihr eigenes Gesetz. „Es gibt Regeln für Zivilisten und Sonderregeln für Armeeangehörige; sie machen sich ihre eigenen Gesetze, da sie außerhalb der Zivilgesetzgebung stehen.“ Seine Sorge gilt vor allem der leichtfertigen Umweltverschmutzung durch Militärinstallationen und besonders den Angriffen, denen estische Wehrpflichtige ausgesetzt sind.

„Es ist unverständlich, warum die estischen Jugendlichen mit der Armee irgenwo in Kasachstan stationiert sein sollen und warum Turkmenen nach Estland geschickt werden. Das ist nicht sinnvoll. In der Sowjetunion werden Gerüchte über die baltischen Republiken in Umlauf gesetzt - sie nennen es 'Faschismus‘ und 'Nationalismus‘ -, und an den Soldaten aus Estland läßt man es dann aus.“

Besorgniserregend sei auch eine konservative russisch -loyalistische Organisation, die sogenannte „Interfront“, die in Opposition zu der eine halbe Million starken Volksfront Estlands entstanden ist. Die Interfront besteht hauptsächlich aus nichtestischen Bürgern Estlands - 40 Prozent der Bevölkerung Estlands sind nichtestischer Herkunft. Sie bekämpft die geplante Einführung des Estischen als Amtssprache und ein Wahlgesetz, nach dem man mindestens zwei Jahre in Estland gelebt haben soll, um mitstimmen zu dürfen.

„Die Organisation ist in Estland gegründet worden, aber sie hat Kontakt mit ähnlichen Gruppierungen in Lettland. Ich halte es für möglich, daß auch Kontakte zum Pamjat in Rußland existieren. Der Punkt ist, daß sie keine Regionalsprachen lernen wollen. Wir leben alle in der Sowjetunion, so sagen sie, und sollten alle Russisch lernen. Das soll man sich mal vorstellen. Wir sollen Russisch lernen, weil wir in Estland leben... Diese Leute sind aufgewachsen und zur Schule gegangen in der Sowjetunion, nicht in Estland, und was sie da sagen, das glauben sie auch, ganz ehrlich und aufrecht. Und man kann ihre Meinung nicht mehr ändern. Vielleicht in der nächsten Generation, aber nicht in dieser. Sie sind überzeugt, daß Estland 1939 vom Kapitalismus befreit worden ist. Und wenn man ihnen vom Molotow-Ribbentrop-Abkommen erzählt, dann glauben sie es einfach nicht. Leider sorgen sie auch dafür, daß idiotische Gerüchte verbreitet werden - daß Esten auf offener Straße Russen erschlagen und ähnliches. Und die Russen glauben das dann auch. Inzwischen fordern sie ein separates, autonomes Gebiet innerhalb Estlands und sehen sich nach Unterstützung durch die Russische Republik um.“

Sumera bestätigt meine Vermutung, daß die Anhänger der Interfront meist der Partei angehören. „Aber das ist heutzutage nicht mehr so entscheidend wie früher. Ich glaube nicht, daß die estische Kommunistische Partei noch als eine monolithische Partei bezeichnet werden kann; es gibt in ihr sehr unterschiedliche Positionen.“

Welche Rolle spielt dann also die Partei noch in Estland?

Sumera antwortet darauf mit Pragmatismus. „Das Gewicht der estischen Partei hängt ab vom Gewicht der Partei in der gesamten Sowjetunion. Wir können nicht einfach die Partei in Estland abschaffen, da sie als sowjetische Partei immer noch enorme Macht hat. Wir müssen diese Macht benützen. Solange eine starke Kommunistische Partei in der Sowjetunion existiert, müssen wir unsere in Estland erhalten. Aber ich glaube, sie sollte sich von der sowjetischen Partei mehr lösen und nicht nur eine Zweigstelle sein, die sich nach dem Kommando aus Moskau richtet.“

Würde denn nicht eine separate Partei letztlich von einer Abspaltung Estlands von der Sowjetunion führen? „Wir können die Sowjetunion gar nicht verlassen“, sagt Lepo Sumera mit einem Lächeln, „denn wir sind nie in sie eingetreten. 1940 hat es keine Abstimmung oder Wahl gegeben, und deshalb ist diese Frage von einem legalistischen Standpunkt aus unsinnig. Wir diskutieren das nicht, weil es da nichts zu diskutieren gibt.“

Wie reagiert er auf die Angriffe aus Moskau gegen die neue Gesetzgebung in Estland? „Laß Moskau sagen, was Moskau sagt, und Tallinn wird sagen, was Tallinn sagt.“ Könnte es sein, daß der Kulturminister von Estland sagen will, daß man Moskau nicht zu ernst nehmen soll? Seine Antwort ist Lachen, aber der Pragmatiker in ihm läßt sich nicht zu weiteren Aussagen provozieren. Es gebe ernstere Probleme, die drängten. Gib den Menschen mehr Lebensmittel, und sie wären alle nicht mehr so gereizt. Nationale und ethnische Spannungen würden abnehmen. Denn wie Thomas von Aquin sagte: Man braucht schon ein bißchen Komfort, um gut sein zu können.

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