: Soviel Anfang war nie
■ betr.: Wende
Geschichtliche Ereignisse haben die Eigenheit, erst zu spät als solche bewußt zu werden.
Natürlich hatten wir Tränen in den Augen damals, erstmals jenseits der Mauer. Natürlich sind rostende Gewehre, leere Kasernen (noch?) keine Alltäglichkeit.
Trotzdem geht die uns weiter: im Suchen, im Zittern, im Leben. DAS VOLK ist längst aus dem Rausch eigener Macht erwacht und stellt noch immer Dreck statt Wasser in den Flüssen fest. Nicht Milch und Honig - elf Tage danach.
Die Träume bleiben, wo sie sind und haben sich nicht materialisiert. Nur die Visionen verlöschen.
Die FREIHEIT WOVON war noch klar, und so die Kraft des Volkes - über die FREIHEIT WOZU hatten nur wenige Zeit nachzudenken, und die dachten für sich selber.
So schwer ist es nicht zu begreifen: Visionen machen nicht satt. Die mit dem Wollen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit antraten, sehen sich mit 200 Jahren Revolutionserfahrung in zweifelhafter Gesellschaft.
So schwer ist es nicht zu begreifen: Jeder Arbeiter, der endlich kräftige Arbeit für kräftiges Geld will, sieht es ein (und der Rest auf dem Trottoir vor der Kneipe bei einem HOLSTEIN PILSENER): Visionen machen nicht satt!
Das haben Parolen FREIHEIT STATT SOZIALISMUS eben anderem voraus: sie sind so herrlich visionslos. Unser Zittern, unser Suchen auf ein Kürzel gestützt, das nun DEM VOLK souffliert (Wir sind das Volk), und unsere Revolution in die Frage münden läßt, wer den GOLF für alle (und für manche den MERCEDES) endlich finanziert:
Wes Brot ich eß'
des Lied ich sing!
wußte schon Walther von der Vogelweide. Die Finanzierbarkeit, die nur zu funktionieren scheint, wenn nicht nur alle ein bißchen, sondern einige sehr viel mehr reich werden, hat sich auch dieser Anfang zu stellen gehabt.
Daß sie das nicht bedenken wollen, ist die Tragik der friedlichen Revolutionäre des Herbstes 1989. Unsere Hoffnung, daß ein ganzes Volk die Freiheit, in einem Faß zu wohnen, der Unfreiheit des eigenen Einfamilienhauses vorziehen würde, zählt auch zu den traditionellen Visionen deutscher Intellektueller, die sich (traditionell) in ihrer Bedürfnislosigkeit vom „einfa
chen Menschen“ abheben, und darum von diesem so geliebt sind.
Wie auch immer: die vor Jahresfrist noch unmöglich scheinende Tatsache ist eingetreten: eine geglückte und dazu noch unblutige Revolution mitten in Deutschland. Eine oft belachte Ungeheuerlichkeit. DAS VOLK hat sie am 18. März darum auch gründlich ausgetreten.
Und uns, die wir unser geschichtliches Ereignis zu verstehen suchen (die nächste Revolution ist erst in fünfzig Jahren zu erwarten), bleibt zumindest die Gewißheit, Täter & Zeuge in einer Zeit gewesen zu sein, in der Visionen Alltäglichkeiten zu werden versuchten. Matthias Hemmann, Leipzi
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