: Volksküchen in den Barriadas
In den Randsiedlungen der peruanischen Hauptstadt Lima nimmt die Verelendung absolut zu / Der Kampf um die Infrastruktur ist dem Kampf ums Überleben gewichen ■ Aus Lima Nina Boschmann
Die Straßen werden staubiger, die Parolen der Linksparteien an den Mauern der Fabriken häufiger. Beißender Qualm steigt aus den brennenden Müllhaufen auf, die den Mittelstreifen der Autobahn fast vollständig bedecken. Zwischen den Rauchsäulen bewegen sich Männer mit Schweißgeräten hin und her. Man erkennt nur die Silhouetten. Hier und dort blitzen an den Enden der Schweißbrenner kleine Gasflämmchen auf. An Drahtgestellen hängen, bizarr verschlungen, unzählige Auspuffrohre. Autowracks und primitive Gruben im Boden weisen darauf hin, daß es sich hier um Reparaturwerkstätten handelt.
An den Straßenrändern bieten Frauen und Kinder alle möglichen Waren feil, aber Käufer sind weit und breit keine zu sehen. Kahl und grau ragen am Horizont die Hügel der peruanischen Küstenwüste empor, bedeckt mit kleinen, ebenso grauen Würfeln; bei genauerem Hinsehen erkennt man, daß es Hütten sind. Einfache Holzgerüste, auf die zerfetzte Bastmatten, Wellblechstücke und Plastikplanen genagelt wurden. Dazwischen Häuser aus Stein, das untere Stockwerk schon bewohnt, das obere noch Baustelle. Ziegelsteinhaufen zeugen in dieser trostlosen Umgebung von bescheidenem Wohlstand. „Independencia“, Unabhängigkeit, heißt eine dieser Siedlungen, in denen inzwischen mindestens ein Drittel der fünfeinhalb Millionen Einwohner Limas lebt. Eine dreiviertel Stunde vom Zentrum entfernt, ist Independencia noch relativ gut zu erreichen, denn die Barriada hat schon 20 Jahre „Stadtentwicklung“ hinter sich.
Marina Garcez, seit 1970 hier ansässig, berichtet: „Wir kamen 1970 hierher, als die Mieten in der Innenstadt unerschwinglich wurden. Ein Haus bauen, in Frieden leben, das war die Idee. Da unten, wo es flach ist, hatten sich schon ein paar Familien niedergelassen, es gab eine Nachbarschaftsorganisation mit einem Generalsekretär und allem drum und dran. Die haben uns ein Grundstück weiter oben zugewiesen und dann ein anderes und auf dem dritten sind wir schließlich geblieben.“ Damals gab es kein Wasser, keinen Strom, geschweige denn eine Straße. Ein Teil des Geländes gehörte privaten Grundbesitzern und wurde besetzt.
„Umsonst gab es hier nichts. Wir haben ein Kampfkomitee gegründet, Frauen und Männer zusammen, und dann angefangen: In Gemeinschaftsarbeit haben wir Wege gebaut, dann kam ein Gesundheitszentrum dazu, nach sieben Jahren die Stromleitungen und vor drei Jahren der Wasseranschluß - nach endlosen Querelen mit drei verschiedenen Baufirmen. Unter dem linken Bürgermeister Alfonso Barrantes und seinem Mitarbeiter Henry Pease wurden Mitte der achtziger Jahre gar die Hauptstraßen und Sportplätze asphaltiert.“ Die meisten Bewohner haben heute Besitztitel auf das von ihnen bebaute Grundstück, und in einigen „Vorgärten“ sprießt schon zartes Grün. Die Kanaldeckel des neu installierten Abwassersystems ragen trutzige 20 Zentimeter über die Oberfläche der Staubpisten an den Hängen - in Erwartung des Belages, der da kommen möge.
Heute, zwei Wochen vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, passiert etwas Besonders: Unten an der Bushaltestelle wird mit Musik und Folkloretänzen die neue Telefonzentrale eingeweiht. „Nationale und internationale Ferngespräche“ heißt es stolz auf dem Blechschild am Eingang.
Ein Glas Milch pro Tag
Ein langsamer Fortschritt also, der die euphemistisch „junge Dörfer“ genannten Barriadas der siebziger Jahre allmählich in Wohnviertel der neunziger Jahre verwandelt - ohne die angestammten Bewohner zu vertreiben?
Weit gefehlt. Die Zeiten sind schlechter denn je. Unter den heutigen Bedingungen erscheint diese kärgliche Infrastruktur als makabres Überbleibsel eines gescheiterten Entwicklungskonzepts. Der kämpferische Optimismus aus der Zeit der Militär- und Rechtsregierungen ist in den letzten fünf Jahren tiefer Hoffnungslosigkeit gewichen: „Mitte der siebziger Jahre“, berichtet Marina Garcez, „haben wir uns zum ersten Mal als Frauen organisiert, in 16 'clubes de madres‘, Mütterclubs, wie das damals hieß. Es gab die Möglichkeit, über Caritas ein Frühstück für die Kinder zu bekommen, und nebenbei haben wir Handarbeiten gemacht und im Viertel verkauft: Körbe, Stickereien, alles sind wir damals losgeworden. Auf Kredit natürlich, aber immer noch rentabel.“
Anfang der achtziger Jahre wurde es immer schwieriger, irgendetwas zu verkaufen. 15 Frauen gründeten eine neue Gruppe, die „Asociacion Tomasa Tito Condemaita“, benannt nach einer Bauernführerin des 19. Jahrhunderts. Damals liefen die ersten Sozialprogramme der linken Stadtregierung an: ein Glas Milch pro Tag für alle Kinder unter fünf Jahren, Schwangere und stillende Mütter.
„Das erschien uns eine gute Idee, aber nicht ausreichend“, erzählt Francisca Marquez, eine der Mitinitiatorinnen der neuen Gruppe. „Die Mütter, die auswärts arbeiten gehen, haben nicht die Zeit, sich mit der Verteilung der Milch zu beschäftigen, und für die, die tagsüber im Barrio bleiben, reicht es als Hilfe nicht aus. Wir wollten deshalb einen 'Comedor popular‘, eine Volksküche, aufmachen. Die sollte das Essen für alle verbilligen und den Frauen, die nicht mit Kochen an der Reihe sind, Zeit für andere Aktivitäten geben.“
Gedacht, getan. Mit Hilfe einer Non-Gouvernment -Organisation wurden ein kleines Lokal und große Töpfe gekauft, aus dem linken Rathaus wurde ein Herd beigesteuert und seit dem 11. November 1985 werden hier von Montag bis Freitag gegen Voranmeldung und Vorauskasse täglich 50 bis 80 Mahlzeiten ausgegeben. Beim Kochen wechseln sie sich ab, meist machen die Mütter mit kleinen Kindern Küchendienst, denn der geplante Kindergarten funktioniert noch nicht und das Haus allein lassen, um Arbeit zu suchen, ist auch nicht ratsam: „Dann kommen die Jugendlichen aus dem Nachbarviertel und klauen die Wäsche von der Leine.“
Ein Menü mit Suppe und Hauptgericht für nur 3.000 Inti, das klingt gut, und für die Köchinnen zwei Portionen umsonst. So kann sich der Comedor denn auch über Mangel an Kundschaft nicht beklagen: Vor allem die Kinder aus der Nachbarschaft kommen, deren Eltern nicht zu Hause sind.
Marina, Francisca und Pilar, mit denen ich an diesem heißen Nachmittag in dem kleinen Büro des Comedors zusammensitze, haben in diesen Jahren viel gelernt. Sie jonglieren mit Preisen, Mengen, Rezepten, Nährwerten und Ersatzprodukten, als hätten sie ein Studium in Ernährungswissenschaften absolviert. Aber die Probleme der Garküche lassen sich auch mit noch so viel Phantasie und Wissen nicht lösen.
Hungerdiät
„Schau“, erklärt mir Francisca, „wir verkaufen das Mittagessen für 3.000 Intis. Das deckt manchmal unsere Kosten und manchmal auch nicht. An einen Gewinn ist gar nicht zu denken.“ Und dabei ist das Essen keineswegs luxuriös. „Du weißt doch, wir Latinos essen gerne viel Fleisch und trinken viel Milch. Aber das ist schon lange nicht mehr drin, die Sachen sind einfach zu teuer geworden.“ Bei 3.000 Prozent Inflation im Jahr sind Nudeln schon was Besonderes.
„Mein Mann ist Techniker“, fällt ihr Pilar ins Wort. „Er verdient zwar wenig, aber immerhin seine drei Millionen Intis. Ich hatte bis vor kurzem ein kleines Geschäft. Von unseren drei Kindern geht noch keins zur Schule, also verursachen sie uns bislang kaum Kosten. Und Miete zahlen wir auch nicht. Weißt du, wie oft es bei uns Fleisch, Fisch oder Huhn gibt? Einmal die Woche.“
In Independencia kann man die Wirtschaftspolitik der Regierung am Speisezettel ablesen: Die ersten zwei Jahre nach Alan Garcias Amtsantritt konnte man sich noch ab und an eine Limo leisten, bis 1988 gab's Hühnersuppe, und seither züchten die Hausfrauen wieder Meerschweinchen im Hof und Tauben auf dem Dach. „Die schmecken gar nicht schlecht“, meint Francisca, „aber über Nacht werden sie oft geklaut.“
Ein typisches Frühstück hier ist Brot und Wasser“, erklärt Marina, die selber zehn Kinder durchzubringen hat. Gebratene Süßkartoffeln sind ihr eigentlich aus ihrer Heimat, einem Andendorf in Cusco, geläufiger, aber seit das Öl so teuer geworden ist... Die zwei bis drei Millionen, die ihr Mann in seiner Werkstatt Marke Eigenbau bei guter Geschäftslage verdient und die anderthalb Millionen, die sie als Putzfrau heimbringt, reichen gerade so aus, um diesen Standard zu halten.
„Nun stell dir vor“, erklärt Marina, „mittags kommen nun also die Kinder, von denen viele nicht gefrühstückt haben, bei uns in den Comedor. Was können wir ihnen anbieten? Rührei schon mal nicht, denn ein Ei kostet ja schon 2.000 Inti. Obst kommt auch nicht in Frage. Wir rennen also auf den Märkten rum und suchen und vergleichen die Preise und rennen zurück und kaufen das Billigste. Übrig bleiben schließlich: Bohnen, Reis, Möhren, Kartoffeln, Zwiebeln, ab und an Nudeln und vielleicht irgendein Gemüse der Saison oder Fisch, wenn er gerade billig ist.“ An Preiserhöhungen im Comedor ist natürlich nicht zu denken.
Brotpolitik
Aber haben nicht alle Politiker immer wieder ihre Unterstützung für die Volksküchen bekundet? Und was ist mit dem großen Unterstützungsprogramm der Caritas?
Da hat die Gruppe „Tomasa Tito“ ihre eigenen Erfahrungen gemacht: „Das Problem ist“, wird mir mit vielsagendem Blick erzählt, „daß hier in Peru jede Partei ihre eigenen Volksküchen organisiert. Als die APRA mit Alan Garcia an die Regierung kam, hat sie die „comedores populares“, die sich bei ihr eingeschrieben haben, mit Lebensmitteln versorgt. Die Köchinnen wurden über das Arbeitsbeschaffungsprogramm PAIT finanziert. So können sie billiger anbieten. Aber wer nicht in der APRA is, kommt an diese Jobs kaum ran und wenn, dann bezahlen sie dich Monate später. Dann ist das Geld die eher symbolische Summe von einem halben Mindestlohn schon nichts mehr wert.
Bei der Caritas muß man sich auch einschreiben. Das ist eigentlich ganz einfach. Aber unglücklicherweise hat sich die Linke inzwischen gespalten. Die Mehrheit der Genossinnen bei „Tomasa Tito“ sympathisiert mit dem sozialistischen Block unter Alfonso Barrantes, die Pfarrei, wo man sich einschreiben muß, mit der „Vereinigten Linken“ unter Henry Pease. Da geschieht es dann, daß man über die Termine nicht informiert wird und hinterher ist nichts mehr zu holen. Und außerdem ist für die Listen eine englische Nonne verantwortlich, so eine „richtige Maggie Thatcher, die es eh nicht leiden kann, wenn Frauen sich organisieren“.
Es wird glaubhaft kolportiert, daß auch der Verkauf verbilligten Brotes an die Beteiligung bei bestimmten Kundgebungen geknüpft ist.
Die Verhältnisse - so der einhellige Tenor - sind zum Heulen. Und das nicht nur, weil der mit Müllresten vermischte Staub in den Augen brennt, sich über die frischgewaschene Wäsche legt. „Was haben wir von den Wasserleitungen? Es gibt kein Wasser. Manchmal wochenlang nicht, kein Tropfen. Früher waren wir darauf eingerichtet: Die Tankwagen kamen vorbei, wir haben unsere Kanister gefüllt und man wußte, was man hatte. Heute kommen die Tanker nicht mehr und wenn die Leitung trocken bleibt, sitzen wir dumm da. Die meisten haben sich schon wieder Kanister gekauft. Mit dem Strom ist es genauso.“
Unter diesen Bedingungen hat die Gruppe Mitgliederschwund zu verzeichnen. „Meine Mutter“, erzählt Francisca Marquez, „ist jetzt in ihr Bergdorf in Cajamarca zurückgegangen, mit 57 Jahren. Ihr Mann ist 68. Wir dachten, aus der Armseligkeit des Landlebens gäbe es einen Ausweg. Aber in all den Jahren sind wir nicht vorangekommen. Es ist unmöglich, hier weiterzukommen.“
Zwei andere Genossinnen haben sich aus der legalen Arbeit zurückgezogen, seit ihre Söhne vom Militär getötet wurden. Das Barrio weiß davon, aber Aktivisten von Sendero Luminoso werden nicht im Stadtviertel eingesetzt. Politische Diskussionen sind mit den AussteigerInnen nicht möglich. „Stell dir vor, wenn die Polizei uns dort findet.“
Die Frauen in der Gruppe lehnen die Strategie von Sendero Luminoso ab: Die Strommastsprengungen verschärften nur die Arbeitslosigkeit in den Fabriken, der sprachlose Terror sei pädagogisch wertlos. Aber verraten würden sie die Frauen deshalb nie: „Schließlich sind und bleiben es Genossinnen.“
Warum sie mit der Volksküche trotz allem weitermachen? Zwei Sichtweisen: „Irgendwie müssen wir doch die Frauen für einen politischen Wandel organisieren.“ „Wir können doch nicht die Leute enttäuschen, die uns geholfen und vertraut haben. Ein kleines bißchen sind wir schon vorangekommen, und was im Leben ist heute schon sicher?“
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