piwik no script img

Von „reifen Äpfeln“ und „fetten Katzen“

In Ägypten wächst der Unmut über Armut, Korruption und politische Unfreiheit / Zumindest in einer ägyptischen Karikatur fallen die Politiker wie reife Äpfel vom Baum Bei allen politischen Differenzen fürchten Regierung und Opposition gleichermaßen eine Umverteilung der westlichen Entwicklungs- und Finanzhilfe nach Osteuropa  ■  Aus Kairo Jochen Müller

Ein Mann steht unter einem Obstbaum und schüttelt ihn mit aller Kraft. Ein dicker Apfel ist bereits in den Staub gefallen. Es ist der Kopf von Nicolae Ceausescu! Ein anderer hängt, schon bedrohlich hin und her schwingend, noch im Baume. „Wer ... wer ist der nächste?“, ruft der Mann. Diese Karikatur erschien kürzlich in einer ägyptischen Oppositionszeitung. Der zweite Apfel braucht kein Gesicht zu tragen - jedem Ägypter ist klar, wer hier gemeint ist: Ihr eigener Präsident Husni Mubarak!

In der Tat ist die ägyptische Regierung beunruhigt über die rasante Entwicklung in Osteuropa. Parallelen zwischen der „Arabischen Republik Ägypten“ und den zusammenbrechenden sozialistischen Regimen sind nicht zu übersehen: Hier wie dort wird die politische Macht von einem kleinen Personenkreis und von oben herab ausgeübt, hier wie dort Wirtschaftskrisen verbunden mit Preissteigerungen. Der Unmut in der Bevölkerung wächst, die Legitimation der Regierung schwindet, denn Korruption bis in die höchsten Ränge ist in Ägypten ebenso sprichwörtlich wie die Macht der zugrundeliegenden Bürokratie.

Seit neun Jahren Notstandsgesetze

Noch geht alles seinen gewohnten Gang in den Straßen und Häuserschluchten Kairos, der Metropole des Mittleren Ostens. Das kann sich schnell ändern: Wo noch kurz zuvor Witz, eine Portion Fatalismus und der tägliche Überlebenskampf im Großstadtgewühl die Unzufriedenheit verdrängt haben, hat auch früher schon der Unmut überhandgenommen, wie zuletzt 1986 bei dem gewalttätigen Aufstand der Bereitschaftspolizei, den die Regierung durch die Armee niederschlagen ließ.

Die Regierung versucht bei ihrem Krisenmanagement eine Art Balanceakt: Auf der einen Seite gewährt sie begrenzte Meinungsfreiheit, die teilweise überraschend offene Kritik zuläßt. Auf der anderen Seite bleibt diese Kritik absolut folgenlos. Nicht genehme Gruppierungen, wie zum Beispiel Teile der fundamentalistischen islamischen Bewegung werden mit aller Härte unterdrückt.

Politisch verfolgt werden aber nicht nur Personen, die dem Kreis der radikalen islamischen Gruppen zugerechnet werden. So wurden im vergangenen Sommer nach Streiks in Ägyptens größter Stahlfabrik Heluan 700 Arbeiter vorübergehend festgenommen und 52 Intellektuelle unter dem Vorwurf der „kommunistischen Untergrundarbeit“ verhaftet.

Die anschließenden Untersuchungen und Verfolgungen gingen weit über den Kreis der direkt Beteiligten hinaus. Berichten der oppositionellen Presse zufolge wurde mindestens ein Journalist der halbamtlichen 'Al Ahram'-Zeitung im Gefängnis gefoltert. Dies auf der Grundlage eines seit neun Jahren geltenden Notstandsgesetzes, das von verschiedenen Oppositionsgruppen gleichermaßen heftig kritisiert wird.

Am Tropf der Entwicklungshilfe

In anderer Hinsicht sind sich Opposition und Regierung zur Zeit jedoch ziemlich einig: Angesichts der veränderten Verhältnisse zwischen den Supermächten und der wirtschaftlichen Umstrukturierung in den einst realsozialistischen Staaten blicken beide mit großer Sorge auf die Zukunft der Entwicklungs- bzw. Nord-Süd-Politik. Die immer wieder gestellte Frage lautet: Wer interessiert sich angesichts dieser Entwicklungen eigentlich noch für uns?

Ihre Befürchtungen sind berechtigt. Der Nord-Süd-Konflikt ist aus der westlichen Tagespresse fast verschwunden. Dabei baut sich hier ein Konfliktpotential auf, das die jetzt noch „sensationellen“ Ereignisse in Osteuropa schnell aus dem Mittelpunkt des Interesses verdrängen könnte. Ägyptens Präsident Mubarak in einem Zeitungsinterview: „Die Krise des Landes würde sich zuspitzen, wenn ausländische Hilfe von Kairo in den Ostblock umgelenkt würde.“ Diese Sorge teilt auch die Opposition. Ein Anfang Januar in einem linken ägyptischen Wochenmagazin erschienener Bericht beginnt mit der Auflistung der Milliardenbeiträge, die die Bundesrepublik in den letzten Monaten der DDR, der Sowjetunion, Polen und Ungarn als finanzielle Soforthilfe in Aussicht gestellt hat. Dann die Frage: „Wie sieht es in Zukunft mit Finanzhilfe für die arabischen Staaten aus?“

Ägypten steht seit langem auf der Liste der Entwicklungshilfeempfänger weltweit an zweiter Stelle: 1987 betrug die Entwicklungshilfe an Ägypten 1,77 Milliarden Dollar, das waren 4,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bei ihren Entwicklungsbemühungen setzt die Regierung Mubarak außerdem nach wie vor auf Finanzierungen und Investitionen aus den Industriestaaten. Um neue Kredite zu erhalten und Umschuldungen einzuleiten, steht Ägypten nach langwierigen Verhandlungen mit IWF und Weltbank kurz davor, deren Bedingungen zumindest vorsichtig entgegenzukommen. Wirtschaftsstrukturreformen, Wechselkursangleichungen, Zinserhöhungen und eine schrittweise Verringerungen der Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energiepreise stehen auf der Liste von Forderungen des Weltwährungsfonds ganz oben.

Auf dünnem Eis

Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln in Folge von Subventionskürzungen haben in der Vergangenheit bereits mehrfach zu sogenannten „Brotrevolten“ geführt. Das zeigt, auf welch dünnem Eis sich die Regierung bewegt, wenn sie zwischen Zugeständnissen an den IWF und den Ansprüchen einer verarmten Bevölkerung taktiert.

Allgemein wird erwartet, daß sich die Situation durch die Veränderungen in Osteuropa weiter verschärfen wird. Gerade private Investitionen werden in den nächsten Jahren in die neu eröffneten, profitträchtigen Märkten Osteuropas abfließen. Für die Staaten der „Dritten Welt“, so die Befürchtung, bleibt da nicht viel übrig. Alternativen zur weltmarktabhängigen Entwicklungspolitik sind in Ägypten jedoch derzeit nicht in Sicht. Die Ratlosigkeit äußert sich in Durchhalteparolen und Appellen. Präsident Mubarak: „Wir sollten uns bei unseren Entwicklungsanstrengungen mehr auf uns selbst verlassen, und der Privatsektor sollte sein Geld in Ägypten investieren!“

Die Geschichte der

„fetten Katzen“

Schon einmal war Ägypten in seiner nachkolonialen Geschichte in den Hintergrund der Großmachtinteressen gerückt. Das war in den 50er und 60er Jahren eine der Voraussetzungen für das Experiment des arabischen Sozialismus unter Nasser. Dieser Versuch einer autonomen Entwicklungspolitik scheiterte und wurde spätestens Mitte der 70er Jahre von Sadats „Politik der Öffnung“ abgelöst: Mit Maßnahmen wie der Lockerung von Import- und Devisenkontrollen, der Schaffung von Freihandelszonen, Handelserleichterungen und der Steuerbefreiung für neu gegründete Unternehmen sollten ausländische Privatinvestitionen ermutigt und die Dominanz staatlicher Institutionen abgeschwächt werden.

Zusammen mit einer nun wieder hauptsächlich exportorientierten Entwicklungsstrategie führte dies zur vollständigen Reintegration Ägyptens in das kapitalistische Weltwirtschaftssystem und zu extremen Einkommensunterschieden innerhalb des Landes. Das Ausmaß der sozialen Polarisierung läßt sich daran erkennen, daß sich Ägypten innerhalb weniger Jahre zu einem Land entwickelte, in dem es weltweit mit die meisten Millionäre gab, ohne daß sich der Lebensstandard in dieser Zeit nennenswert erhöht hätte. Als „fette Katzen“ werden die Angehörigen dieser, durch den Import von Luxusgütern und ihre Nähe zur Staatsbürokratie reich gewordenen Schicht von den Ägyptern bezeichnet.

Die Ergebnisse der Öffnungspolitik bleiben jedoch weit hinter den Erwartungen zurück. Der Umfang von Direktinvestitionen und Joint-ventures mit Industriestaaten macht bis heute nur einen Bruchteil der ägyptischen Gesamtinvestitionen aus. Außerdem entfielen etwa zwei Drittel der getätigten ausländischen Investitionen auf den Dienstleistungssektor (vor allem Tourismus und Banken).

Trotzdem setzt Mubarak grundsätzlich den wirtschaftspolitischen Kurs Sadats fort. Heute ist keines der Probleme Ägyptens gelöst. Das Wirtschaftswachstum ist wieder unter die Rate des Bevölkerungswachstums von fast drei Prozent gefallen. Mit 50 Milliarden Dollar gehört Ägypten zu den meist-verschuldetsten Staaten der Welt und ist auf Gedeih und Verderb von Krediten und Nahrungsmitteleinfuhren abhängig. 60 bis 70 Prozent des Nahrungsmittelbedarfs müssen importiert werden.

Der Mangel an Konzepten

Die Regierung versucht sich zur Zeit an der vorsichtigen Liberalisierung und Privatisierung des von allen Seiten als unproduktiv kritisierten öffentlichen Sektors. Mubarak bezeichnet das als Lehre, die man aus den ökonomischen Schwierigkeiten der osteuropäischen Länder ziehen müsse. Diese hätten viel zu sehr auf die staatliche Kontrolle gesetzt.

Die ägyptische Opposition kritisiert zwar die Zugeständnisse der Regierung an den IWF, die Entwicklung praktikabler Konzepte fällt aber auch ihr schwer. Die ohnehin schwache Linke besteht auf der Dominanz eines, wenn auch reformierten, öffentlichen Sektors und vertritt mehrheitlich nach wie vor das alte nasseristische Modell der Binnenmarktorientierung und der allgemeinen Wohlfahrtspolitik.

Für die Mitte-Rechts-Parteien sind Freiheit und Demokratie die Zauberworte, die gerade jetzt täglich in den Berichten der oppositionellen 'Wafd'-Zeitung als Lösung für alle Probleme angepriesen werden. Auf entwicklungspolitischer Ebene bedeutet dies die Fortsetzung des Kurses der Regierung Sadats: forcierte Privatisierung. Eine liberale Wirtschaftspolitik also, die vor allem auf Kosten jener gehen würde, die bereits jetzt am meisten unter Preissteigerungen und Arbeitslosigkeit zu leiden haben.

Hoffen auf die arabische Integration

Die größten Hoffnungen setzt man in Ägypten gegenwärtig auf eine Beschleunigung der arabischen Integration. Diesen Kurs propagiert auch die Regierung. Der Arab Cooperation Council (ACC), ein Wirtschaftsbündnis zwischen Ägypten, dem Irak, Jordanien und dem Nordjemen, ist nur einer von drei Zusammenschlüssen, die jüngst in der Region entstanden sind.

Vorbild für all diese Bündnisse ist die europäische Gemeinschaft. Deren gemeinsamer Binnenmarkt von 1992 wird indes als Bedrohung empfunden, denn für die ohnehin schon beschränkten Exportmöglichkeiten der arabischen Staaten sind zusätzliche Hindernisse abzusehen. Allerdings ist man bei den arabischen Integrationsversuchen bisher über Absichtserklärungen und einige Ansätze in Bereichen wie der Verkehrs- oder Handelspolitik nicht hinausgekommen.

Für Ägypten stehen die Bemühungen um wirtschaftliche Integration aber immer auch im Zeichen der strategischen Bedeutung des Landes. Militärisch, kulturell und ökonomisch ist Ägypten weiterhin die Drehscheibe der arabischen Welt. Entsprechend wichtig ist die Position des Landes für die Stabilität der gesamten Region. So verleiht nicht zuletzt die mäßigende Rolle, die Ägypten im israelisch-arabischen Konflikt spielen soll, den ägyptischen Forderungen bei den Verhandlungen mit den internationalen Kreditgebern zumindest etwas Gewicht.

In dieser Hinsicht war 1989 für Ägypten ein äußerst erfolgreiches Jahr: Das Land wurde wieder in die arabische Liga aufgenommen, aus der es 1979, nach dem Friedensvertrag mit Israel, ausgeschlossen worden war. Mubarak hat den Vorsitz in der OAU übernommen. Erneut spielt Ägypten die Rolle des Vermittlers zwischen den USA, Israel und den Palästinensern. Die Beziehungen zu Syrien und Libyen werden wieder aufgenommen - die beiden Staaten tauchen erst seit wenigen Wochen wieder auf der internationalen Wetterkarte des ägyptischen Fernsehens auf, nachdem auf Damaskus und Tripolis jahrelang keine Temperaturen mehr gemeldet worden waren. Last but not least mit der Gründung des ACC hat sich Ägypten in der internationalen Politik mit Nachdruck zurückgemeldet.

Ein Apfel ist vom Baum gefallen

Als Mittel zur Ablenkung von den inneren Problemen des Landes ist die erfolgreiche Außenpolitik aber nur sehr bedingt tauglich. Im Gegenteil - ein oft geäußerster Vorwurf ist, daß Präsident Mubarak zu viel in der „Weltgeschichte“ herumreise, und sich zu wenig um die Sorgen und Nöte „seines“ Volkes kümmere.

Während die Position des Präsidenten jedoch letztlich unantastbar scheint, wurde Zaki Badr, seit 1986 Mubaraks Innenminister, zur meistgehaßten Person im öffentlichen Leben Ägyptens. Scharfe Verfolgung der politischen Gegner unter Einsatz jener Mittel, die ihm das seit 1981 geltende Ausnahmerecht einräumt, Unterdrückung von Lohnstreiks und anderen Protestäußerungen und ein regelrecht unflätiges Verhalten in der verbalen politischen Auseinandersetzung kennzeichneten sein Image.

Ausgerechnet letzteres sollte ihn schließlich den Kopf kosten: Die Mitte Januar heimlich mitgeschnittene Tonbandaufnahme einer nicht-öffentlichen Rede des Innenministers vor Polizeioffizieren offenbarte sein „unqualifiziertes“ Verhalten. In dieser Rede hatte er sämtliche politischen und gesellschaftlichen Gruppen des Landes mit den übelsten Schimpfworten tituliert, die die arabische Sprache zu bieten hat.

Die Veröffentlichung in den Oppositionsblättern am folgenden Tag erregte das ganze Land. In den Straßen und Cafes der Hauptstadt gab es kein anderes Diskussionsthema und der Tenor lautete: Das geht zu weit! Zaki Badr hatte ohnehin auch weit gezogene Toleranzgrenzen überschritten, und auch seine Macht über die Geheimpolizei und die Ausnahmegesetze konnten ihn nicht mehr vor den Angriffen schützen, die jetzt das Eingreifen des „Rais“, des Präsidenten selbst, verlangten.

Die Opposition im Aufwind

Bereits am folgenden Tag bezeichnete Saad ed-Din Ibrahim, Ägyptens bekanntester Soziologe, die Absetzung des Innenministers durch den Präsidenten als eine „Frage des Überlebens“. Tatsächlich haben sich die Gemüter nach der Entlassung von Zaki Badr vorerst beruhigt, und Mubarak selbst hat dadurch vielleicht sogar an Popularität zugewonnen.

Aber die Opposition setzt nach: Gefragt wird jetzt, wie es überhaupt zu derartiger unkontrollierter Machtfülle und solchem Machtmißbrauch wie im Fall des Exministers kommen konnte. Der Schluß ist klar und einhellig: Nicht Personen das System muß verändert werden! Auf der Woge des Erfolgs, der nicht zu Unrecht als ein Erfolg von Volkes Stimme gefeiert wird, werden weitere Schritte gefordert. An der Spitze dieser Forderungen steht natürlich die Aufhebung der Notstandsgesetze. Des weiteren wird die Freilassung der politischen Gefangenen und Demokratisierung in allen Bereichen verlangt. Die ägyptische Bevölkerung scheint sensibilisiert - in den ersten Tagen nach Zaki Badrs Sturz waren sämtliche Oppositionszeitungen bereits wenige Stunden nach ihrem Erscheinen vergriffen. Parallel zu den Ereignissen in Osteuropa drängen sich auf und gerade das Beispiel Rumänien wird von der Opposition auch ganz bewußt eingesetzt.

Möglich, daß es sich nur um ein vorübergehendes Beben handelt, möglich aber auch, daß die Erschütterungen, die in den nächsten Jahren auf Ägypten und andere Staaten der „Dritten Welt“ zukommen werden, so stark sind, daß noch der eine oder andere Apfel vom Baum geschüttelt wird.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen