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Don Quichote gegen den Kreml?

■ Eine Kontroverse um Litauen

Vladimir Simonow, 'apn'-Kommentator aus Moskau:

Allem Anschein nach gibt es eine Art Litauensyndrom. Quebec fordert eifriger als früher eine Trennung von Kanada. In Schottland fand die Statistik heraus, daß die Mehrheit der dortigen Bevölkerung für die Scheidung von Britannien ist. Nächtens überfällt mich ein böses Gefühl: Was, wenn auch Alaska diesen Trend mitmacht? Was geschieht, wenn sich meine ehemaligen russischen Mitbürger in diesen verschneiten Weiten plötzlich daran erinnern, daß der Zar sie einst spottbillig, sozusagen für eine Handvoll Halsketten, an Amerika verscherbelt hat? Obendrein, ohne sie gefragt zu haben. Wenn die nun ebenfalls ihre Unabhängigkeit verlangen? Wie übrigens auch die amerikanischen Indianer, die sich immer noch nach ihren souveränen Landstrichen sehnen.

Das Streben der Völker nach Souveränität ist ewig. Das Völkerrecht neigt aber nicht dazu, Emotionen zu folgen. Die Verfassungen der meisten demokratischen Staaten enthalten keine Artikel, die eine Selbstbestimmung bis hin zur Separation vorsähen oder gar regeln würden. Litauen ist in dieser Hinsicht bedeutend besser dran als Schottland oder Quebec. Die sowjetische Verfassung ist praktisch die einzige, in der dieses Recht festgeschrieben ist. Mehr noch, Gorbatschow ist jener Mann, der die Möglichkeit des Austritts mit einem entsprechenden Verfahrensmodus versehen will.

Litauen brauchte sich also nur mit Geduld zu wappnen. Doch Litauens jetziger Chef Landsbergis macht den Eindruck, als lege er es darauf an, Gorbatschow in die Enge zu treiben. Nach der Verkündung der Unabhängigkeit am 11.März wurden in Vilnius 80 verschiedene Gesetzesakte verabschiedet, die die Kluft zwischen den Seiten unverkennbar noch weiter aufreißen, die Aufnahme eines Dialogs erschweren und wie ein mehrbändiges Ultimatum wirken.

Damit ist der Kreis geschlossen. Gorbatschow ist der Ansicht, Verhandlungen seien unmöglich, solange die Seiten nicht wieder ihre Ausgangspositionen eingenommen haben.

Selbst in der Bewegung „Sajudis“, unter deren Losungen die litauischen Separatisten agieren, hält allmählich so mancher das Verhalten von Landsbergis für seltsam. Jedenfalls brilliert er keineswegs mit staatsmännischem Können. Wie Don Quichote rennt er mit gefällter Lanze gegen den Kreml an. Dort aber sitzt der Mann, dessen Reformen eben jene Sajudis aus der Wiege gehoben haben. Außerdem wird Gorbatschow als erster führender Repräsentant der UdSSR in die Geschichte eingehen, der die Fragen der sowjetischen Föderation praktisch und im Geiste der Demokratie zu lösen begann.

Erstreckt sich Landsbergis‘ Freiheitsliebe nur auf die Litauer? Jedenfalls wundert es viele, daß eine der ersten Erklärungen der litauischen Regierung der Unteilbarkeit Litauens galt. Das fügt sich wenig in internationale Normen. Erhält man das Selbstbestimmungsrecht, so sollte man es auch anderen zugestehen, oder?

Befragte man die Bevölkerung von Vilnius oder Klaipeda, würde sie sich höchstwahrscheinlich gegen den Austritt aus der Union aussprechen. Befragte man die Polen aus dem Raum Vilnius, so könnten auch sie Autonomie verlangen.

Niemand aber hat sie gefragt. Die Willensbekundung des litauischen Volkes für die Bestimmung des Schicksals der Republik wurde nicht durch eine Volksbefragung oder Volksabstimmung mit dem Völkerrecht in Einklang gebracht. Mehr noch, angesichts der multinationalen Bevölkerung der Republik hätte man eine derartige Befragung nach einzelnen Gebieten durchführen müssen. Das würde aber die Führung der litauischen Separatisten wieder mit dem Problem der eigenen

-russischen, polnischen und ukrainischen - Minderheiten konfrontieren.

Mit seiner Forderung nach dem Austritt verschließt Vilnius die Tür für andere Hausbewohner. Auf den ersten Blick sind Landsbergis‘ Appelle an die Weltöffentlichkeit würdevolle Schritte eines zivilisierten politischen Führers. Doch die Freunde des Völkerrechts können sich des Mißtrauens nicht erwehren. Sie wissen, daß zu den ersten litauischen Gesetzen ein Ansässigkeitszensus gehörte, der die gröblichste Verletzung der internationalen Konvention über die Beseitigung aller Formen der Rassendiskriminierung darstellt.

Ein derartiger Zensus besteht, wenn ich nicht irre, nur im Königtum Tonga. Aber selbst dort ist er kurzfristiger.

Auf Simonow antwortet Professor Uibopuu, Völkerrechtler an der Uni Salzburg und gebürtiger Lette

Es gibt das Litauensyndrom auch in Moskau; denn alles, was derzeit aus Vilnius kommt, ist für den Kreml notwendigerweise schlecht. Ob die armen Russen sich ihres verlorenen Kontinents in Alaska erinnern, ist schwer zu beantworten; sie werden aber mit ihrer derzeitigen Lage sicherlich zufriedener sein als die Litauer und die anderen baltischen Völker.

Wenn man die Bevölkerung in Vilnius oder Klaipeda nach ihrer Auffassung zum Ausscheiden aus der UdSSR befragen würde, wäre ihre Antwort sicherlich: Ja! und noch mal: Ja! Genauso, wie sich ihre Brüdervölker im Norden entscheiden würden. Die Willensbekundung in diese Richtung wurde durch die Wahl zu den Obersten Sowjets klar ausgedrückt, als die Sajudis und die Volksfronten - welche auf ihre Fahnen die Wiederherstellung der im Jahre 1940 verlorenen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit geschrieben hatten überwältigende Siege errangen. Vor allem muß man bei diesen Wahlen berücksichtigen, daß von der nichtlitauischen, nichtestnischen und nichtlettischen Bevölkerung die Volksfronten durchaus ein Vertrauensvotum erhielten.

Wenn Simonow ein Referendum als völkerrechtliche Voraussetzung für eine Willensbekundung der Bevölkerung bezüglich territorialer Veränderungen verlangt, so sollte er dieses Verlangen um 50 Jahre zurückschrauben, als niemand die baltischen Völker fragte, ob sie in die UdSSR eintreten wollen. Auch wurden sie niemals gefragt, ob sie so viele Gastarbeiter „einladen“ wollten, als die Unionsministerien entschieden, diese Länder gewaltsam zu industrialisieren.

Simonow spricht die Verfassung der UdSSR an, welche als einzige der Welt das Austrittsrecht der Unionsrepubliken enthält. Wie die Diskussion im Kongreß der Volksdeputierten der letzten Tage zeigte, ist dieses Recht eigentlich ein Nudum jus, ein nur auf dem Papier bestehendes Recht, denn es enthält offensichtlich Ausführungsbestimmungen, die ein georgischer Abgeordneter als Gesetz über den Nichtaustritt bezeichnete. Ein lettischer Abgeordneter bezeichnete dieses „Austrittsausführungsgesetz“ als Strafgesetz, weil es den Austrittswilligen für diese Ausübung eines angeblichen Rechtes bestrafe. Ähnlich geht es derjenigen Republik, welche den Artikel 76 ernst nimmt, welcher die Republik einen souveränen Staat nennt.

Simonow stößt sich an dem litauischen Wahlgesetz, das er Ansässigkeitszensus-Gesetz nennt. Tatsächlich verlangt das Wahlgesetz, wie übrigens auch seine österreichischen, finnischen usw. Gegenparts, daß ein Wähler vor Ausübung seines Wahlrechts am Ort eine bestimmte Zeit ansässig gewesen sein muß. Worum es aber geht, ist die Frage der Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für aktives und passives Wahlrecht. Und hier befindet sich Litauen in Gesellschaft fast aller Staaten der Welt. Denn das Wahlrecht ist ein Bürger- und nicht ein Menschenrecht; und die Nichtgewährung des Wahlrechtes ist keine Rassendiskriminierung. Außerdem kann jeder Staat seine Staatsangehörigen selbst bestimmen, und in Zentraleuropa folgt die Staatsangehörigkeit in der Regel derjenigen der Eltern und nicht dem Wohnsitz. Das ist eine englische und amerikanische Spezialität.

Ob Landsbergis gegen Windmühlenflügel kämpft, hängt davon ab, wieviele dieser Gebilde auf der Kremlmauer stehen oder um den Roten Platz herum angebracht sind. Es wäre besser, wenn sich die Sowjetführer um die Logik ihrer eigenen Verfassung kümmerten, welche die Republiken halt als Staaten betrachtet.

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