Arbeiterbewegung und Sozialarbeit

■ Marx, Engels und die Privatwohltätigkeit

Rudolph Bauer

Sozialarbeit ist zu einer Dienstleistungstätigkeit geworden, die heute hauptsächlich zum Erwerb von Einkommen erbracht wird. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen, die bei sozialen Diensten tätig sind, stehen in einem Beschäftigungs - und Lohnverhältnis. Ihre Tätigkeit ist - wie die der übrigen Lohnabhängigen auch - den allgemeinen Verwertungsbedingungen des Kapitals unterworfen. Analog zur klassischen Lohnarbeit sind auch die Entwicklungsprozesse sozialer Dienstleistungen den Methoden der Produktivitätssteigerung in der Lohnarbeit vergleichbar.

So gesehen, tritt heute hinter dem ideologischen Schleier des „Ehrenamts“ die Tatsache unbezahlter und unterbezahlter Arbeit, der fortschreitenden Dequalifizierung beruflicher Sozialarbeit sowie ihrer Extensivierung zutage. Der Einsatz von Computern in der Sozialhilfeverwaltung ist ebenso ein Anzeichen der Intensivierung Sozialer (Lohn-)Arbeit wie die für die 90er Jahre erwartete „zweite Phase der Professionalisierung“ (Maelicke, 1989) durch Managementtraining und Marketingkurse für die Führungskräfte in den Sozialverwaltungen und Wohlfahrtsverbänden. Sozialarbeit ist Lohnarbeit

Der Wandel der Sozialarbeit zur Lohnarbeit, die Entfremdung zwischen HelferIn und Hilfebedürftigen, die Entpersönlichung der Hilfe und die Orientierung sozialer Dienstleistungen an Markt-, Rentabilitäts- und Effizienzkritierien hat sich über die letzten 150 Jahre hinweg entwickelt. Zunächst nämlich bestand zwischen Wohltätigkeit und Arbeiterbewegung eine soziale Kluft, die zu überwinden für die sozialpädagogischen MitarbeiterInnen heute in dem Maße möglich wird, wie die in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik Tätigen nicht mehr in erster Linie adlige, kirchliche, bürgerliche und kleinbürgerliche PrivatwohltäterInnen sind, sondern Lohnabhängige und den Folgen der Lohnabhängigkeit ebenso ausgesetzt wie die AdressatInnen der Sozialarbeit selbst.

Historisch hingegen war die Privatwohltätigkeit der ökonomisch und sozial privilegierten Gesellschaftsklassen ein Mittel, Armut politisch zu negieren. An ihren Anfängen im 19. Jahrhundert stand die Sozialarbeit in „liebesthätiger“ Verbrämung als Wohltätigkeit der Arbeiterbewegung konträr und feindlich gegenüber. Das galt auch für ihre Wortführer, wie z.B. Johann Hinrich Wichern, den Begründer der „Inneren Mission“ (des heutigen „Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche Deutschlands“). Der „unmögliche Dialog“ zwischen den Repräsentanten der Privatwohltätigkeit und Vertretern der Arbeiterbewegung, wie z.B. Marx und Engels, war somit - darin ist dem Historiker Brakelmann (1973, 41) zuzustimmen - „kein Versehen oder Versäumnis der Geschichte“. Friedrich Engels

und Hinrich Wichern

Zu der Zeit, als sich die Bekanntschaft Wicherns mit dem Bremer Erweckungsprediger Georg Gottfried Treviranus in den 1930er Jahren zu einer lebenslangen Freundschaft entwickelte, war Friedrich Engels von 1838 bis 1841 Handelslehrling im Bremer Kontor des Großhandelskaufmanns Heinrich Leupold. Engels wohnte im Haus des Bremer Hauptpastors von St. Martini - eben jenes engen Wichern -Freundes Treviranus.

Treviranus und Wichern hatten sich 1828 kennengelernt. In den Anfängen der Bremischen Sonntagsschularbeit besuchte Treviranus zur Anschauung die Sonntagsschule des Pastors Rautenberg in Hamburg St. Georg, in deren Diensten sich Wichern damals befand. Er und Treviranus stellten fest, daß sie in ihrer pietistisch-fundamentalistischen Gesinnung übereinstimmen.

Elf Jahre nach der ersten Begegnung, im November 1839 Engels wohnte damals schon bei der Familie Treviranus -, wurde der Bremer Erweckungsprediger Taufpate von Wicherns Sohn Johann Karl Georg, und 1840 setzte zwischen Wichern und Treviranus eine umfangreiche Freundschaftskorrespondenz ein. Von dieser Korrespondenz sind aus den Jahren 1840 bis 1850 (bei Fehlen des Jahrgangs 1842) 264 Briefe von Treviranus an Wichern erhalten, die dieser sorgsam geordnet hat.

Engels, 1840 zwanzigjährig, wußte also wohl von Wicherns Ideen, sicher aber kannte er die Ansichten und Wohltätigkeitsaktivitäten des mit Wichernn eng befreundeten Treviranismus. Der Pietist Treviranus hatte seit 1815 eine Reihe von Vereinen der christlichen Privatwohltätigkeit gegründete und gilt deshalb als „der Mann des christlichen Vereinswesens“ (Wenig, 1966) in Bremen. Der „unmögliche Dialog“ war somit nicht etwa ein Ergebnis der Unkenntnis der einen Seite über die andere.

Es gibt zusätzliche Parallelen auf beiden Seiten: Engels war 25 Jahre alt, als seine Untersuchung über Die Lage der arbeitenden Klassen in England 1845 in Leipzig erschienen ist. Im selben Alter, als 25jähriger, hatte Wichern 1833 eine Schrift veröffentlicht unter dem Titel Hamburgs wahres und geheimes Volksleben. In tagebuchartigen Aufzeichnungen berichtete er über Hausbesuche in den Hinterhöfen und Kellern des Hamburger Gängeviertels, über die vorgefundene Armut und das, was ihm als sittliche Verwahrlosung galt.

In einem Vergleich beider Schriften kommt der Historiker Erich Beyreuther (1973, 70) zu dem Fazit, daß „um die Mitte des 19. Jahrhunderts kein anderer Schriftsteller, auch Wichern nicht, die wesentlichsten Fragen der sozialen Probleme, des wirtschaftlichen Wachstums, des Wirtschaftskreislaufes, die mit dem Beginn des Industriezeitalters unausweichlich eintraten, so klar gesehen“ hat wie Engels.

Wichern hatte Engels‘ Schrift Über die Lage der arbeitenden Klasse in England, wie wir ebenfalls durch Beyreuther (1973, 70) wissen, „gründlich gelesen. Bleistiftstriche in einem Exemplar stammen ohne Zweifel von seiner eigenen Hand. Ob Wichern diese Faktoren einer werdenden Industriegesellschaft wie sie Engels analysiert hatte, wirklich ernst genommen hat“, fragt Beyreuther. Und ohne direkt darauf zu antworten, fährt er fort: „Auffällig ist, daß er in einer recht spärlichen Randbemerkung zu Engels Schrift sich nur über dessen ...Vorbeisehen an dem, was in England vor allem die Kirchen zur Behebung der sozialen Notstände bereits unternahmen, mokiert hat.“ „Die innere Mission“

und das „Manifest“

Im Februar des Revolutionsjahres 1848 erschien in London das von Marx und Engels als Programm des Bundes der Kommunisten verfaßte Manifest der Kommunistischen Partei (Marx/Engels, 1964, 459ff). Seit Anfang April 1848 arbeiteten Engels und Marx, der über das revolutionäre Paris gekommen war, in Köln innerhalb der demokratischen Bewegung, und sie begannen am 1. Juni mit der Herausgabe der 'Neuen Rheinischen Zeitung‘, die es bis zum 19. Mai 1849 auf 301 Ausgaben gebracht hatte. Am 16. Mai 1849 erhielt Marx in Köln den Ausweisungsbefehl, Engels einen Haftbefehl. Marx mußte nach Paris emigrieren, Engels nach London.

Was machte der Privatwohltäter Wichern zu dieser Zeit? Wichern reist im Frühjahr 1848 nach Schlesien, um den Aufbau von Waisen- und Rettungshäusern zu organisieren. Dann kehrt er, wie Brakelmann (1973, 40) schreibt, „an den Rand von Hamburg“ zurück, in seine „gewohnte Umgebung“. Vom 21. bis 23. September ist er beim Kirchentag zu Wittenberg, der aus der privaten Initiative einzelner „führender Männer“ hervorgegangen war und heute als erster deutscher evangelischer Kirchentag gilt.

Wichern verlangte dort in einer Rede die Anerkennung der inneren Mission als Reaktion der evangelischen Kirchen auf die Revolution als den kommenden Antichrist. Wieder zurück in Hamburg: „Kaum ist der Kirchentag zu Wittenberg verstrichen, da treten unter Wicherns Vorsitz im November 1848 im Haus der Patriotischen Gesellschaft 60 Männer zusammen und gründen den Verein für innere Mission in Hamburg. „Zu den Männern“, so berichtet Dießenbacher (1986, 217), „zählten neun Prediger und elf Kandidaten des Predigeramtes, Kaufleute, Künstler, Lehrer, Handwerker.“

Ebenfalls im November 1848 erscheint Wichern zu Vorverhandlungen über die Gründung des Zentralausschusses der inneren Mission in Berlin. „Sozusagen im Schutze der von Wrangelschen Bajonette“, schreibt Brakelmann (1973, 33), „wird von einem knappen Dutzend Männer aus dem politisch und kirchlich konservativen Lager die Arbeit der künftigen inneren Mission konzipiert. Es sind Angehörige des Bildungsbürgertums, Beamte preußischer Ministerien, Mitglieder des Adels und Vertreter der Berliner Kirche, die dem Hamburger Wichern den Auftrag geben, eine Programmschrift über die inhaltliche und organisatorische Arbeit der inneren Mission zu schreiben... Ihr theoretischer und praktischer Kampf gegen die Revolution hatte in der inneren Mission ein vorzügliches Instrument gefunden, den staatlich-obrigkeitlichen Kampf gegen die Prinzipien und Praktiken der Volkssouveränität durch einen theologisch legitimierten Kampf gegen den 'Unglauben‘ der Zeit komplementär zu ergänzen.“

Brakelmann (1973, 34) urteilt über Wichern und über die von den Berliner Gründern bei ihm in Auftrag gegebene Denkschrift, deren erste Fassung Ende 1848 fertiggestellt war, wie folgt: „Das von Wichern fundamental theologisch gemeinte Gegenkonzept gegen einen epochal verstandenen Verfall des Glaubens, der Ordnung und der Sitte ließ sich funktional für Herrschaftsinteressen von Krone, Adel, Bourgeoisie und Fürstenkirche verwenden. Wichern selbst ist an dieser Verwendung seines Missions- und Diakoniekonzepts aber nicht unschuldig gewesen, wie Einzelanalysen zeigen...“

Am 21. April 1849, als sich für Marx und Engels das Ende der 'Neuen Rheinischen Zeitung‘ abzeichnete, schreibt Wichern das Vorwort zur fertiggestellten Schrift, die den Titel trägt: Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation (Wichern, 1948). Martin Gerhard (a.a.O., XIII), der die Denkschrift im Nachkriegsjahr 1948 „zum hundertjährigen Bestehen des Centralausschusses neu herausgegeben“ hat, bemerkt im Vorwort, es handle sich um „die bedeutendste Antwort, die damals auf evangelischer Seite auf das Kommunistische Manifest gegeben wurde“.

In Teil III des Kommunistischen Manifests hatten Marx und Engels unter der Überschrift Sozialistische und kommunistische Literatur das Selbstverständnis der Privatwohltätigkeit von Adel, Kirche und Bürgertum einer scharfen, ablehnenden Kritik unterzogen. Auf diese im „Manifest“ als „feudaler Sozialismus“, „christlicher Sozialismus“ und „konservativer oder Bourgeoisiesozialismus“ charakterisierten Strömungen der Wohltätigkeit im 19. Jahrhundert geht die Ideologie der Sozialarbeit und Sozialpädagogik heute in ihrer Entstehung zurück. SozialarbeiterInnen

als WohltäterInnen?

Seither hat sich der (zu Beginn dieses Beitrags) beschriebene Wandel der Sozialarbeit zur Lohnarbeit vollzogen. In diesem Resultat des historischen Entwicklungsprozesses zeigt sich aber auch die besondere Dialektik des Verhältnisses von Sozialarbeit und Arbeiterbewegung:

Aufgrund seiner geschichtlichen Wurzeln, als Privatwohltätigkeit der privilegierten Klassen nämlich, ist das ideologische Selbstverständnis der Sozialarbeit davon bestimmt, politisch zu reagieren auf die sozialen Bewegungen der Lohnarbeiter und der Armen, deren Lage eine Folge der kapitalistischen Ökonomie war und ist. Dagegen erlaubt die inzwischen erfolgte Ökonomisierung der beruflichen Sozialarbeit heute der Tendenz nach die Politisierung der materiellen Interessen von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen, die denselben Verwertungsbedingungen unterliegen wie die übrigen Lohnabhängigen auch.

Ob und in welchem Maße Sozialarbeit sich politisiert, ist jedoch eine Frage der Überwindung des falschen, historisch verwurzelten Bewußtseins im ideologischen Selbstverständnis der sozialen (Lohn-)Arbeit: Ist die Dienstleistungstätigkeit in sozialen Berufen vor allem soziale Arbeit mit paternalistisch-wohltätiger Helferaura oder ist sie prinzipiell Lohnarbeit wie die der übrigen abhängig Beschäftigten auch? - Aber auch auf Seiten der Arbeiterbewegung, also der Gewerkschaften etwa, ist eine andere Politik sowohl gegenüber den Angehörigen sozialer Berufe als auch gegenüber den sozialberuflich versorgten Opfern der ökonomischen Verhältnisse - z.B. den Arbeitslosen - überfällig.

Unter dem Motto „Wenn wir schreiten Seit‘ an Seit'“ dokumentierte Duisburg während der Monate September bis November 1989 die historische Bedeutung der Arbeiterbewegung in der Rhein-Ruhr-Stadt. Den Abschluß zahlreicher Veranstaltungen bildete Anfang Dezember ein Symposium an der Universität - Gesamthochschule - Duisburg. Wir veröffentlichen - gekürzt - eines der Referate.

Literatur

Beyreuther, E., 1973, Religionsfeindschaft und Säkularisation. Umstrittene Perspektiven des jungen Wichern, in Hase/Meinhold, 1973, 66ff.

Brakelmann, G., 1973, Denkschrift und Manifest. Hoffnungen auf eine menschlichere Welt, in Hase/Meinhold, 1973, 32ff.

Dießenbacher, H., 1986, Der Armenbesucher: Missionar im eigenen Land. Armenfürsorge und Familie in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderters, in Sachße, Chr./F. Tennstedt (Hg.), Soziale Sicherheit und sozialer Disziplinierung, Frankfurt/Main, S. 209 ff.

Hase, Chr. von/P. Meinhold (Hg.), 1973, Reform von Kirche und Gesellschaft 1848-1973. Johann Hinrich Wicherns Forderungen im Revolutionsjahr 1848 als Fragen an die Gegenwart. Studien zum 125. Gründungstag des Centralausschusses für die innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche, Stuttgart.

Maelicke, B., in: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (Hg.), Innovation und Management in der sozialen Arbeit. Fort- und Weiterbildungsangebote 1990, Frankfurt/Main 1989.

Marx, K./Engels, F., Das Manifest der Kommunistischen Partei, in Marx-Engels-Werke, Bd.4, Berlin.

Wenig, O., 1966, Rationalismus und Erweckungsbewegung in Bremen, Bonn.

Wichern, J. H., 1948, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation, im Auftrage des Centralausschusses der inneren Mission. Zum hundertjährigen Bestehen des Centralausschusses neu herausgegeben von Martin Gerhardt, Hamburg.