: Ostermarsch out - Nato in
Außenpolitik wird wieder in den Staatskanzleien gemacht ■ K O M M E N T A R E
Angesichts der Inflation „historischer Momente“ im letzten halben Jahr ist eine Schrecksekunde des politischen Establishments, die durchaus in diese Reihe gehört hätte, nahezu unbemerkt geblieben. Wer im letzten Herbst die Diskussionen der kleinen Metterniche verfolgte, stieß bei ihnen auf eine Verunsicherung, wie sie in der europäischen Geschichte tatsächlich selten anzutreffen ist. Anlaß des Entsetzens bei den auf traditionelles Blockdenken eingeschworenen Sicherheitspolitikern war nicht so sehr, daß die europäische Nachkriegsordnung sich in rasanter Auflösung befand, sondern wie dieser Vorgang vonstatten ging. Den Staatskanzleien, hohen Militärs und Think-tanks in den USA und Europa, den Hohepriestern des Atomzeitalters war die Kontrolle über die Nachkriegsordnung entglitten, denn die Außenpolitik wurde plötzlich auf den Straßen Osteuropas gemacht. Hinter dem öffentlichen Grinsen von Bush, Mitterrand und Kohl (übrigens bis hin zu Leuten wie Egon Bahr) steckte trotz der Beteuerungen über die Freude an den demokratischen Bewegungen das nackte Entsetzen - daß nämlich das „Sicherheitsrisiko Mensch“ plötzlich in das Refugium der Außenpolitik drängte.
Für aufmerksame Beobachter war diese Verunsicherung mit Händen zu greifen. Was wird aus uns, wenn der Warschauer Pakt sich auflöst? Wird der Funke von Ost- auf Westeuropa überspringen, werden demnächst die Massen in der Bundesrepublik, den Beneluxländern, in Großbritannien und Italien die Legitimität der Nato ebenso anzweifeln wie dies
-indirekt, aber zwangsläufig - gegenüber dem Warschauer Vertrag geschah? Die Verunsicherung war so groß, das Bush und sein Außenminister in ersten Statements zu erkennen gaben, daß die Zeit der Nato vorbei sein könnte, Deutschland als Ganzes vielleicht nicht einfach zu integrieren sei, über ganz andere Ideen als nur eine der neuen Bedrohungsanalyse etwas angepaßte Nato nachgedacht werden müßte - Aussagen, die später als Versprecher einer übermüdeten Nachtsitzung deklariert wurden. Wie wir wissen, ging diese Schrecksekunde vorbei, mußte Kohl nicht per Hubschrauber aus einer Großdemonstration ums Kanzleramt ausgeflogen werden, blieb das Aufbrechen der in Jalta geschaffenen Strukturen eine einseitige Angelegenheit.
Mittlerweile hat das westliche Establishment längst wieder Tritt gefaßt. Dies nicht zuletzt deshalb, weil auch der sowjetischen Politik statt einer vorwärtsweisenden Utopie nur der historische Anachronismus „Neutralität“ einfiel, mit dem die Menschen im Westen zu Recht nicht zu mobilisieren waren. Das Projekt einer europäischen Friedensordnung jenseits militärischer Kategorien, mit dem das Vakuum im November/Dezember letzten Jahres hätte gefüllt werden können, wurde auch im außerparlamentarischen Raum nicht formuliert, die Friedensbewegung blieb stumm. Da ist es kein Wunder, daß der ausschließlich einer Tradition der alten Konfrontation entstammende Termin der Ostermärsche nun auch die Massen nicht in Bewegung setzte. Das Gefühl einer akuten Bedrohung wird zu Recht zur Zeit nicht empfunden, und die Chance einer aktiven Gestaltung der Außenpolitik ist verstrichen. Die Friedensbewegung im Westen hat nun wenig Grund zu lamentieren, daß es der Nato gelungen ist, sich nach dem ersten Schock jetzt wieder als Garant der Stabilität zu präsentieren. Die Gelegenheit, eine Alternative dagegenzusetzen, blieb ungenutzt.
Jürgen Gottschlich
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