: Gewerkschaft oder politische Kraft?
■ Solidarnosc muß sich entscheiden / Vom 2. Gewerkschaftskongreß seit 1981 berichtet Klaus Bachmann
Mit einer Unterstützungserklärung für die Unabhängigkeitbewegung in Litauen und einem Grußwort von US -Präsident Bush begann gestern der Kongreß der Solidarnosc in Danzig. Die fünftägigen Diskussionen drehen sich vor allem um die Frage, was Solidarnosc zukünftig sein will: kämpferische Gewerkschaft oder politische Partei? Auch ihr Chef Walesa hat „Höheres“ vor: Er will Staatspräsident Polens werden.
Gerade jetzt, angesichts der Wirtschaftskrise, brauchen die Menschen Solidarnosc besonders, doch gerade jetzt ist Solidarnosc schwächer denn je. Mit diesen Worten beschrieb dieser Tage die Regierungszeitung 'Rzeczpospolita‘ das Dilemma der Gewerkschaft, die seit gestern fünf Tage lang in Danzig ihren zweiten Kongreß abhält. Wieder in der Oliwia -Halle, in der 1981 bereits der erste Kongreß stattfand, wieder mit Hunderten von Gästen und Beobachtern, und wieder heißt der Vorsitzende Lech Walesa. Seinen Rechenschaftsbericht über die Zeit seit 1981 selbst vorzutragen, darauf verzichtete der mittlerweile berühmte Gewerkschaftschef jedoch. Er sehe sich außerstande, „frei von Emotionen und prägnant“ Bericht zu erstatten, erklärte er in einer kurzen Einführungsrede.
Trotz der äußerlichen Ähnlichkeiten: Die Solidarnosc hat sich heftig gewandelt. Einige der damals führenden Köpfe haben sich inzwischen zurückgezogen. „Es gibt heute keine Gewerkschaft, die unabhängig von der Regierung, der Verwaltung oder einer Partei wäre“, sagt der Stettiner Gewerkschaftsführer Marian Jurczyk. „Die Preise steigen täglich, die Verarmung der Gesellschaft nimmt ständig zu.“ Für die Gewerkschafter um Marian Jurczyk und Andrzej Gwiazda hat Solidarnosc ihre Herkunft gleich zweimal verraten: Durch die Gespräche am Runden Tisch, die in den Augen seiner Kritiker das politische Dasein der Kommunisten verlängerte, und durch die Wirtschaftsreform. „Die Reform kann nicht nur darauf beruhen, den Gürtel immer enger zu schnallen“, kritisiert Gewerkschafter Jurczyk. Seine Anhänger sind in Danzig nicht anwesend, sie haben stattdessen eine eigene Gewerkschaft, die „Solidarnosc '90“ gegründet. Dennoch konnten sie Walesa auf dem Kongreß zuerst eine Niederlage bereiten. Die Mehrheit der 490 Delegierten folgte nämlich dem Vorschlag des Solidarnosc-Vorsitzenden der Bergarbeiter von Katowice, Walesa-Kritiker und Solidarnosc-Führer der ersten Stunde wie Marian Jurczyk, Andrzej Gwiazda und Anna Walentynowicz („die Pasionaria von Danzig“) einzuladen. Walesa erklärte wütend, mit jenen werde er nicht diskutieren, und stellte die Vertrauenfrage. Großer Triumph für ihn: Nur ein Delegierter votierte gegen ihn.
Andere „Radikale von 1981“ wie Jan Rulewski und Andrzej Slowik sind mit dem derzeitigen Kurs der Gewerkschaft ebenfalls unzufrieden. Sie sprechen aus, was viele an der Basis denken: Mit nur noch 1,9 Millionen Mitgliedern ist Solidarnosc schwächer als je zuvor. Zwar muß sie nicht mehr alle vertreten, wie 1981, als sie noch zehn Millionen Mitglieder hatte. Doch die Konkurrenz, die kommunistischen Gewerkschaften OPZZ, hat inzwischen dreimal so viel Mitglieder. Zahlreiche der einst führenden Köpfe hat die Gewerkschaft an die Bürgerkomitees, an die Regierung und an die Ministerien verloren.
Solidarnosc hat in Polen mehr verändert in den letzten Jahren als jede andere politische Kraft - aber eben nicht als Gewerkschaft. Als Bürgerkomitee hat sie die Wahlen gewonnen, eine Regierung auf die Beine gestellt und eine Wirtschaftsreform in die Wege geleitet, die der Gewerkschaft Solidarnosc immer mehr Knüppel zwischen die Beine wirft. Auch die Funktionäre merken, daß der Wind umgeschlagen hat: Mit den Kollegen von gestern, die heute in den Ministerien sitzen, eine gemeinsame Sprache zu finden, wird immer schwerer. Wenn die Gewerkschaft eine Anhebung des Mindestlohns und der Arbeitslosenhilfe fordert, hat die Regierung kein Geld.
Vor diesem Hintergrund sind auch Lech Walesas heftiger werdende Worte gegenüber der Regierung zu verstehen. Doch dahinter steckt noch etwas: seine Hoffnung, eine Art zweite Front zu eröffnen, um die politischen Reformen schneller voranzutreiben und Solidarnosc als führende politische Kraft zu etablieren.
Es war Jaroslaw Kaczynski, Senator und von Lech Walesa eingesetzer Chefredakteur des Gewerkschaftsorgans 'Tygodnik Solidarnosc‘, der den Streit darum mit einem Interview losgetreten hatte. „Diese Regierung und diese überkommene Ordnung des Runden Tisches blockieren Reformen“, erklärte er. Sein Konzept, kurz darauf von Walesa selbst abgesegnet: „Präsident Jaruzelski muß gehen, Walesa muß Präsident werden.“ Damit habe er nur auf die Notwendigkeit schnellerer und radikaler Reformen hinweisen wollen, milderte Walesa diese Äußerungen am Vortag des Gewerkschaftstages ab. „In gewisser Weise habe ich ein Eigentor geschossen“, gab er zu. „Denn jetzt werfen mir die Leute vor, ich benütze die Gewerkschaft als Sprungbrett zur Präsidentschaft.“
Für Kaczynski hingegen ging es vor allem darum, Solidarnosc ein Comeback zu verschaffen: „Wir müssen eine starke gewerkschaftliche Front aufbauen, um zu verhindern, daß nur die Arbeitnehmer die Last der Reformen tragen. Und dazu brauchen wir auch eine Lobby im Parlament - die kann klein sein, aber es muß klar sein, daß diese Leute vor allem der Gewerkschaft verantwortlich sind“ (Siehe nebenstehendes Interview). Von daher befürwortet Kaczynski nicht nur Walesas Präsidentschaftskandidatur, sondern auch vorgezogene Neuwahlen. Also Wahlen zu einem früheren Termin, als Premier Mazowiecki sie sich wünscht. Mazowiecki, Ehrengast des ersten Kongreßtages, mahnte die Delegierten zu Mäßigung und Vorsicht.
Der Streit um Politisierung oder Entpolitisierung ist eines der Hauptkonfliktfelder des Kongresses. Davon zeugt nicht zuletzt die Programmdeklaration, die den Delegierten vorliegt. Zur Sicherheit haben sie die Organisatoren gleich in zwei Versionen verfaßt: In der einen „schließt die Gewerkschaft die Gründung einer eigenen politischen Vertretung nicht aus“, in der anderen stellt sie sich „gegen Versuche, unter unserem Mantel politische Parteien zu gründen.“ In der ersten Version fordert sie eine Sicherung des Lebensniveaus der Beschäftigten, in der zweiten erklärt sie Inflation und Kaufkraftverlust zu einem notwendigen Übel und unterstützt die Regierung.
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