: ZWISCHEN DEN RILLEN
■ Bahia - New York - Berlin
Salvador/Bahia Brasilien, eine warme Sommernacht, Januar 1989. Dummerweise hab‘ ich mich ins Pelourinho verirrt, eines der nach Einbruch der Dunkelheit gefährlichsten Viertel Salvadors. Viele Taxifahrer weigern sich, durch dieses Viertel zu fahren, aus Angst vor Überfällen
Ich bin gerade intensiv damit beschäftigt, mir einen Fluchtweg aus den engen Altstadtgassen auszudenken, da entdecke ich auf einem Platz einen europäischen Verrückten, so scheint es mir jedenfalls: Ein blonder Recke mit einem 5.000 DM teuren Dat Recorder nimmt ein paar schwarze trommelnde Jungs auf. Gerade vor einer Woche wechselte mein eigener, wesentlich billigerer Recorder infolge eines bedrohlich nervösen und auf mich gerichteten Trommelrevolvers den Besitzer, und jetzt so was.
Der waghalsige Soundsammler entpuppt sich schnell als Mike Herting, Pianist, Komponist und Produzent aus Köln (Härte 10 und Trio Rio).
Eigentlich auf Urlaubstrip, sammelt er mit seinem Dat so nebenbei und offensichtlich mit dem Glück des Ahnungslosen brasilianische Klänge aus Kultur und Natur. Im Nordosten ist er gewesen und vor allem im Amazonasgebiet. Gesehen hat er dort das Elend der Indianer und Siedler, den übermäßigen Reichtum der brasilianischen Oberschicht sowie die täglich fortschreitende Vernichtung des brasilianischen Regenwaldes.
Aus all diesen Erfahrungen entstand Hertings erstes musikalisches Soloprojekt: Who owns Brasil oder Wem gehört Brasilien.
Um die gesammelten Sounds aus der sterbenden Natur des Amazonasgebietes und ethnisch-musikalische Impressionen herum hat Mike Herting ein bisweilen sehr synthie- und sequenzerlastiges Kunstprodukt gebastelt. Eine Musik, die trotz des heißen Herzens des Machers manchmal etwas kühl ausfällt. Wer anhand des Plattentitels annimmt, brasilianisch Beeinflußtes zu hören, liegt falsch. Außer einer angedeuteten „Sanfona“, gelegentlich karibischer Percussion und einer wunderschönen, Dat-gesammelten Originalversion des brasilianischen Volksliedes Rainha do Mar hat die Platte mit brasilianischer Musik, so wie ich sie kennengelernt habe, nichts zu tun. Aber das war wohl auch nicht die Intention dieser Produktion.
Etwas mehr Aggressivität allerdings und nicht ganz so pathetische Texte hätten dem Projekt Wem gehört Brasilen, das nach eigenem Bekunden ja auch auf die Amazonasproblematik hinweisen will, gewiß genützt.
Orts- und Szenenwechsel:
New York, 25. Februar 89. Ein Zwischenstopp auf dem Weg ins heimatliche Berlin. Ich sitze in der ehrwürdigen Town Hall und erlebe zum ersten Mal Naked City. Dieser Band ist nichts heilig. Die Musiker um den Saxophonisten John Zorn (Bill Frisell, Fred Frith, Wayne Horvitz und Joey Baron) klauen wie die Raben, und das perfekt. Fast alle musikalischen Stile werden benutzt und in rasender Perfektion verwurstet und verhackstückt. Und diese Band hat's eilig. Alle drei bis vier Minuten (manchmal alle 30 Sekunden) ein neues Stück, und das zwei Stunden lang. Es swingt, rockt, kracht, lacht, schmalzt, jazzt, folkt, und es passiert alles irgendwie gleichzeitig. Alles wird benutzt und nichts gelassen wie es ist. Ein gemeines Konzert zum Totlachen. Und genauso ist auch die LP Naked Citys, die jetzt, ein Jahr nach diesem New Yorker Konzert, auf den europäischen Markt gekommen ist. (Das Berliner Konzert der Band im Metropol im April war leider nur ein Abklatsch dessen, was sie bei ihrem Heimspiel in NY gezeigt haben. Zuviel gehäufter, eintöniger 30 -Sekunden-Krach.)
Letzter Ortswechel: Berlin. Erinnerungen an Brasilien. Ich höre die mitgebrachten Platten durch und entdecke Os mulheres negras, zu deutsch „die schwarzen Frauen“. Zwei weiße Avantgardemusiker aus Sao Paulo, die sich als die kleinste Big Band der Welt bezeichnen. Die Platte: Musica e Ciencia, „Musik und Wissenschaft“. Ich bin platt. Das gleiche Konzept wie Naked City. Gershwin, die Beatles, Vila Lobos, Jobim und, wie bei Naked City, Mancini werden respektlos, gekonnt und witzig verwurstet. Wie Naked City umarmt man freejazzend die eigene Folktradition. Derselbe gnadenlose Eklektizismus, derselbe Witz, dieselbe Perfektion. Nur schon ein paar Jahre älter (die LP stammt aus dem Jahre 88) und hierzulande völlig unbekannt. Wann war John Zorn das letzte Mal in Sao Paulo? Die schwarzen Frauen als Mütter der nackten Stadt? Soviel zur ersten und dritten Welt.
Andreas Weiser
Mike Herting: Who owns Brasil. verABra Records LC 8098
Naked City. Elektra Nonesuch 7559-79238-1
Os mulheres negras: Musica e Ciencia. WEA (Brasil) 00522
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen