: Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache
■ Über 150 Publizisten, Wissenschaftler und Politiker trafen sich am Wochenende in Ost-Berlin, um die gemeinsame Erfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs in den sozialistischen Ländern Europas aufzuarbeiten. Wichtiger Tagungspunkt der 1.Konferenz des „Interforums“ war die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China und deren mögliche Initialzündung für das Aufbegehren in Ostmitteleuropa.
Ein Kongreß unter der Last höchster Ansprüche, ausgesprochener und unausgesprochener. Das Revolutionsjahr 1989, das mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens begann und mit dem Sturmlauf des demokratischen Aufbruchs in ganz Osteuropa endete, sollte thematisiert werden - aber wofür und gegen was? Der Wunsch nach Ermutigung kämpfte mit der Mühe der Analyse und der Suche nach einer gemeinsamen oder gar neuen Sprache. Der DDR -Träger des „1. Interforums“, das Wahlbündnis 90, stand noch ganz im Schatten der Wahlniederlage, und die Redner erhofften sich vom Kongreß, so spürte man, so etwas wie eine Erlösung vom ihrem depressiven Bild der Anfänge einer DDR -Demokratie. Wolfgang Templin resümierte die Trostlosigkeit mit der These, wonach die Idee „einer zivilen Gesellschaft aus einer Demokratie von unten jetzt schon wieder zur Utopie“ geworden ist.
Während die DDR-Vertreter aus der neuen Einsamkeit des Intellektuellen gegenüber dem Volk sprachen, sich selbst als neue „Querulanten“ (Templin) sahen, haben die Polen das Problem nicht: Sehr viel realistischer und radikaler thematisierten sie den flächendeckenden Ruin, den der Sozialismus hinterlassen hat. „Barrieren“ für eine Entwicklung zur Demokratie, das war der Schlüsselbegriff sowohl eines Mitarbeiters der Bartory-Gesellschaft als auch Andrzej Celinskis, Senatsvertreter für Solidarnosc. Die Haltung der „gelernten Ratlosigkeit“ sei das dominierende Verhalten in Osteuropa, sagte Celinski: „Es fällt den Menschen leichter, Parteigebäude zu verbrennen, als eigene Häuser aufzubauen. Es fällt ihnen leichter, Stasi-Leuten keine Arbeit zu geben, als sich selbst Arbeitsplätze zu schaffen.“
Identisch die Tonlage aus der UdSSR, von Sergej Cernjak ('Moskauer Tribüne‘). Mythen oder feste Paradigmen beherrschten die Erfahrungen der ökonomischen Misere: „1. Die Welt ist einfach; 2. Die Welt ist wunderbar; 3. Die Welt ist an sich gerecht. Ungerechtigkeit ist unnatürlich. 4. Die Welt ist unveränderbar.“ Mit diesem Weltbild entsteht keine Demokratie, vielmehr erwartet man von oben die Bestätigung dieses Weltbildes.
Die Gewaltfrage
Was mochten die Chinesen von diesen Beiträgen mitnehmen, die nach der „Lektion Osteuropa“ (Yizi Chen) fragten? Sie waren unter den zweihundert Teilnehmern in der Überzahl, mit einem deutlichen Übergewicht an Nadelstreifenanzügen. Sie kamen mit den klarsten Zielvorstellungen (Kampagnen gegen die chinesische Gewaltherrschaft) und mit den inkohärentesten Beiträgen. Sie vertraten, je nach Herkunft und Herkunftsuniversität und akademischem Eigensinn, das Modell Taiwan oder einen doch sehr allgemeinen Optimismus. Winston L. Y. Yang: „Die KP Chinas kann die Demokratiebewegung nicht ewig niederschlagen. Folglich ist die Demokratisierung auf dem Festland langfristig gesehen doch optimistisch anzusehen. Der düsteren Zeit der Demokratiebewegung auf dem Festland wird Heiterkeit folgen.“
Andererseits beglückte Gu Weiqun die Zuhörer mit Funden aus der amerikanischen Politologie, wonach statistisch erwiesen sei, daß die Demokratie ab 4.000 DM Durchschnittsgehalt größere Chancen habe. Genauso sei es günstiger für eine demokratische Entwicklung, wenn die Länder vorher englische Kolonien gewesen seien.
Trotz solcher Kuriosa waren es doch wiederum die chinesischen Teilnehmer, die ausgerechnet in einer Diskussionsrunde über Informationsgesellschaft und den Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa eine der aktuellsten Fragen dramatisch zuspitzten: Wie ist es mit dem Theorem der Gewaltlosigkeit der demokratischen Revolution, wenn die kommunistische Partei auf jeden Fall Gewalt anwenden wird? An dieser Frage brach dann doch die ungeheure Entfernung zwischen der osteuropäischen Entwicklung und dem Problem der chinesischen Demokratiebewegung auf.
Solidarität - aber wie?
Für Petra Kelly lag der Erfolg des Kongresses schon darin, daß er überhaupt stattfand. Sie postulierte kurzerhand, er sei „ein Stück Hoffnung“, ein Weg zur neuen Internationale der „Dissidenten in Ost und West.“ Sie sah in dem „Interforum“ gewissermaßen eine Clearing-Stelle künftiger Kampagnenpolitik, einer Außenpolitik als Menschenrechtspolitik. So forderte sie zum Kampf gegen Rechtsradikalismus auf, plädierte für „gemeinsame Aktionen“ zum Jahrestag des Massakers auf dem Tiananmen-Platz und forderte den Boykott der China-Messe in Schwalmstadt. Ihre Rhetorik eines weltweiten Aktionismus, mit dem Hinweis gepaart, daß sich die Westler zurückhalten sollten, machte dann doch den Moderator mißmutig. Er wies darauf hin, daß es nicht das Problem sei, ob man mit der chinesischen Demokratiebewegung solidarisch sein solle, sondern es sei die Frage des Wie. Dennoch entsprach sie wohl am ehesten dem Interessen der Chinesen, die immer wieder das westliche und östliche Protestpotential gegen die chinesische Außenpolitik abfragten.
Natürlich hatten es die Moderatoren schwer. Die Beiträge wurden überzogen, Raum für Diskussion blieb kaum. Die große Hoffnung auf Ansätze einer gemeinsamen Sprache ging einher mit Hinweisen, daß man sich von den „Ergebnissen der Tagung nicht zuviel erwarten soll“. „Wichtiger sind die Gespräche und Verbindungen unter den Teilnehmern“ (Prof. Eimermacher). So war es vielleicht das Glück des Zufalls, daß bei einzelnen Podien die Beiträge sich zu einem kritischen Diskurs ergänzten. Das geschah am Sonntag morgen unter dem Titel „Sozialismus ade - Kapitalismus ante portas“. Daniel Salvatore Schiffer aus Mailand, von makelloser Eleganz bis zum Haarschnitt, formulierte einen Kontrapunkt zu allen osteuropäischen Rednern. Er sprach mit Verve „von westlicher Philosophie“, kritisierte die Verfallenheit der westlichen Öffentlichkeit an „den Taumel des Jahres 1989“, die „gefährliche Meinung“, daß mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems auch der Kommunismus beendet sei: „Ich glaube nicht im geringsten an den Untergang des Kommunismus, als Ideologie betrachtet.“ „Wer Marx, Engels, Lenin, Gramsci richtig gelesen hat, kann niemals der Meinung sein, daß der reale Kommunismus damit etwas zu tun hat.“ „Wie kann man das Ende von etwas postulieren, daß nie angefangen hat?“ Allerdings, die Synthese von Schiffer formulierte sich als ein etwas dürftiger und tonloser Hinweis auf einen reformierten Sozialismus.
Daniel Salvatore Schiffer hatte mit einer romanischen Begriffslust interveniert; die Antwort aus der Gegenwart kam prompt. Andrzej Celinski, mit Jeans und Vielzweckweste, erklärte prompt, er weigere sich, „Marx wieder auszugraben“. Das 20. Jahrhundert sei ein Jahrhundert des „linken und rechten Wahnsinns“ gewesen. Er forderte gerade deswegen eine „weitgehende Zurückhaltung der Intellektuellen“. Die Erbschaft der Ideologien sei „eine Wüste“, die „ethischen Standards seien zerstört“. „Wir haben noch keine Sprache gefunden, die der Wirklichkeit entspricht.“ Der staatliche Egalitarismus hat dazu geführt, daß kein Ding einen Preis habe, daß man von oben alles erwarte, wie jetzt in der DDR die Währungsunion zum Kurs von 1:1. Es gehe darum, daß in einer Gesellschaft in der es nur die Nomenklatura und die Lohnarbeit gab, überhaupt eine Mittelklasse entstehe. Erst dann sei an eine Entwicklung der Demokratie zu denken. Die Lektion Osteuropa? „Die Länder haben die Unabhängigkeit wiedergefunden, aber nicht die Demokratie.“
Pessimist aus Moskau
Während Celinski wie viele andere das Vakuum nach dem Zusammenbruch des Sozialismus benannte - mit Hoffnungen ex negativo -, analysierte Cernjak aus Moskau mit atemberaubendem Pessimismus. Der Versuch der Demokratisierung von oben käme einem Versuch gleich, ein Auto zu beschleunigen und gleichzeitig eine Wendung um 180 Grad zu vollziehen. Die wachsende ökonomische Misere gehe einher mit der Fortschreibung paternalistischer Strukturen durch die Demokratie von oben: „Von der Regierung erwartet man nicht, daß sie Tätigkeit freisetzt, sondern daß sie von Tätigkeiten freisetze.“ Die Demokratie habe in dem „Monstrum“ SU keine große Chance. Wahrscheinlicher sei, daß gegen die Unabhängigkeitsbewegungen der Völker in der Sowjetunion ein faschistischer Bürgerkrieg ausgelöst werde.
Jens Reich hatte im Eingangsreferat auf ein doppeltes Phänomen des Jahres 1989 hingewiesen: „Erstaunliche Theoriearmut“ einerseits, andererseits ein gewisser Erfolg für die Theorie, weil es „den Ideologen die Sprache verschlagen hat“. „Mit geweiteten Augen sehen wir zu, unser Begriffsformalismus klappert im Leeren. Ob Konferenzen uns weiterbringen?“ Natürlich läßt sich so eine Frage nach einem Kongreß nicht beantworten. Aber eine Idee der Kontroversen der nächsten Jahre brachte er immerhin.
Klaus Hartung
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