: Starke Regionen gegen den Hauptstadtwahn
Ministerpräsidenten der Länder und Wirtschaftsbosse setzen auf Regionalisierung und Dezentralisierung bei der Gestaltung der neuen Republik Deutschland/ Regierungssitz in Berlin oder Frankfurt ist für die Mainregion von sekundärer Bedeutung ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt
Frankfurt (taz) - Dem langjährigen Pressesprecher der Grünen im hessischen Landtag, Georg Dick (43), ist die ganze Debatte um die zukünftige Hauptstadt einer vereinigten Republik Deutschland eigentlich „völlig wurscht“. Ob Berlin oder Frankfurt, ob Leipzig oder Weimar - das alles sei von sekundärer Bedeutung, denn ohne monetäre Spritzen aus den ökonomisch potenten Regionen der Republik sei nahezu jede zukünftige Hauptstadt zum Siechtum verurteilt. Auch der erklärte Favorit der Union, die alte Reichshauptstadt an der Spree, werde jahrelang am Tropf Hessens und Baden -Württembergs hängen müssen, falls Berlin tatsächlich die Hauptstadt des neuen Deutschland werden sollte. Dick und seine Grünen votieren deshalb in der „uns aufgezwungenen Debatte“ für die Beibehaltung Bonns, denn das sei die „kostengünstigste Variante“. Dem Weißweintrinker und Hobby -Jongleur aus der Mainmetropole Frankfurt geht - ganz im Gegensatz zu seinem Ministerpräsidenten Walter Wallmann (CDU) - offenbar jeder Lokalpatriotismus ab.
Wallmann setzt dagegen voll auf Frankfurt, denn die Stadt, in der er knapp zehn Jahre lang Oberbürgermeister war, verfüge über „demokratische Traditionen“. Die Symbolik der Frankfurter Paulskirche, in der sich 1848 das erste, frei gewählte Parlament der Deutschen plazierte, gegen die negative Symbolkraft, die von der NS-Reichshauptstadt Berlin ausgehe: „Let's go - Eintracht!“ Doch Ministerpräsident Wallmann, der seinen ersten geistigen Höhenflug durch die Geschichte vor Wochenfrist mit einem ökonomischen „Looping“ krönte, indem er vor einer Aushöhlung der Wirtschaftskraft der Rhein-Main-Region warnte, scheint selbst in Frankfurt ein einsamer Rufer in der Wüste zu sein. Sein Amtsnachfolger Volker Hauff (SPD) jedenfalls will kein Hauptstädter werden, und seine Gesinnungsfreunde aus der Frankfurter Union stehen auf Berlin.
Die Analyse Wallmanns von der „gewaltigen Dominanz“, die von einer Hauptstadt Berlin ausgehen und die sich „voll zu Lasten der Bundesländer und ihrer Metropolen auswirken“ werde, wird dagegen auch von den politischen Gegnern des Christdemokraten als realitätsnah bezeichnet. Vertrauliche Gespräche mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau (SPD) haben zumindest eine gemeinsame Zielvorgabe gezeitigt: die Stärkung des föderativen Elements. Und mit dieser Zielvorgabe - losgelöst von der Hauptstadtdebatte - können auch die Kritiker des Ministerpräsidenten aus den Reihen der hessichen Grünen leben, denn „beim Aufbau des Hauses Europa kommt den Regionen eine besondere Bedeutung zu“ (Dick).
„Dezentralisierung und Regionalisierung“ heißen die Zauberworte, mit denen die Gegner einer Hauptstadt Berlin die Bürgerinnen und Bürger aus beiden deutschen Staaten verzaubern wollen. Und da spielt auch die mächtige Industrie - und Handelskammer (IHK) in Frankfurt mit, die allerdings Wallmanns Ängste vor einer Vormachtstellung einer Hauptstadt Berlin gegenüber der europäischen Wirtschaftsregion Rhein -Main nicht teilt. Die Wirtschaftsbosse setzten auf Europa und seine Regionen. Mit der Region Mailand oder mit dem Großraum Paris habe Frankfurt mit seinem Umland in Konkurrenz zu treten - nicht mit Berlin oder Weimar.
Der IHK geht es um den Ausbau Frankfurts als Finanzplatz und als Standort für das Dienstleistungsgewerbe. Ein Regierungssitz Frankfurt - mit seinem kalkulierbaren Flächenverbauch für Regierungs- und Verwaltungsgebäude wäre da nur kontraproduktiv. Die Frage nach dem Standort der zukünftigen europäischen Zentralbank ist für Frankfurt wichtiger als die Frage nach der zukünftigen Hauptstadt. Die Zentralbank in die Mainmetropole - und die Bundesregierung nach Berlin oder nach Bebra. Mit dieser „Lösung“ jedenfalls könnte die Frankfurter Wirtschaft- und Finanzwelt gut leben.
Walter Wallmann gibt denn auch öffentlich zu, in der Hauptstadtdebatte „nicht interessenfrei“ gehandelt zu haben. Als Landesvater sei er schließlich verpflichtet, die Interessen Hessens zu wahren - und seine eigenen. Angesprochen auf eine denkbare neue Rolle als Ministerpräsident des Bundeslandes Hessen-Thüringen lächelte Wallmann vor der Landespressekonferenz nur weise. Berlin als neue Hauptstadt wird - bei realistischer Einschätzung der Absichten der Regierungsparteien in Bonn und Ost-Berlin kaum zu verhindern sein. Mit seinem Vorstoß für die Hauptstadt Frankfurt, mit dem Wallmann nach Auffassung der hessischen SPD bestimmte Institutionen in Frankfurt zur Disposition gestellt habe, wollte der CDU-Ministerpräsident offenbar nur das Terrain für Dezentralisierungsverhandlungen abstecken. Heute kann sich Wallmann durchaus vorstellen, daß Frankfurt „zumindest Standort für ein Bundesverfassungsorgan“, etwa für den Bundesrat werden könnte. Und das nordhessischen Kassel müsse unbedingt Standort für Bundessozial- und Bundesarbeitsgericht bleiben.
Für seinen landespolitischen Gegenspieler Hans Eichel (SPD), der Wallmann in genau einem Jahr vom Ministerpräsidentensessel stoßen will, hat Wallmann mit der Dezentralisierungsdebatte einen „notwendigen Rückzieher gemacht“, ohne dabei zu einer neuen Konzeption gekommen zu sein. Denn die vom Christdemokraten losgetretene Hauptstadtdebatte habe bei denen, die Berlin als Hauptstadt favorisieren, Begehrlichkeiten geweckt. Durch den „unsinnigen Vorstoß“ Wallmanns sei etwa eine aus wirtschaftlicher Sicht heraus verhängnisvolle Verlagerung der Bundesbank nach Berlin erst Diskussionsthema geworden. Eine „Gespensterdebatte“ nannte das Eichel.
Der Aufsteiger des Jahres 1989 ist ein überzeugter Europäer. Und deshalb votiert Eichel konsequent für die Dezentralisierung, für eine Entflechtung der Verfassungsorgane. Und unter dieser Maxime könne Bonn leicht abgespeckt -durchaus Regierungssitz bleiben. In Berlin würden ohehin schon heute in verschiedenen Bundesinstitutionen mehr Bundesbeamte arbeiten als in Bonn: „Berlin braucht dringend Wohnungen und Büroräume und keine Ministerien. Und das gilt auch für Frankfurt.“ Und wenn's denn dem Seelenleben der Berliner dienlich ist, hat Eichel auch nichts dagegen, wenn etwa der Bundespräsident mit seinem Präsidialamt endgültig nach Berlin gehen sollte.
Ohnehin stehe der aus dem 19. Jahrhundert stammende Nationalstaatengedanke zur Disposition. Europa stehe vor der Einigung. Und da müsse die Souveränität der einzelnen Staaten auf eine europäische Regierung übergehen - bei gleichzeitiger Stärkung der Rechte der Regionen und Kommunen. Und unter diesem Aspekt sei die Hauptstadtdebatte schließlich mehr als müßig. Eichel: „Mit Europa wird die Bundesebene automatisch gewaltig an Bedeutung verlieren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen