Zwischenbilanz einer Katastrophe

■ Das Ausmaß der „Havarie“ wird nach vier Jahren allmählich sichtbar

Vielleicht muß es so sein: In einer Übergangszeit, in der die einen immer noch die unmittelbaren Folgen der Katastrophe herunterbeten, die anderen schon Langzeitfolgen benennen oder für die Zukunft „hochrechnen“, sind Zahlen zwangsläufig widersprüchlich. Das fängt bei den Toten an. Offizielle Stellen beharren stur auf jenen 31 Opfern, die gleich nach Ausbruch des Infernos starben. Mediziner und verschiedene kritische Zeitungen nennen 250 Tote, andere sprechen allein von 300 Soldaten, die nach Dekontaminationsarbeiten an akuten Durchfallkrankheiten gestorben sind. Insgesamt wurden 600.000 Soldaten für Arbeiten im verseuchten Gelände aufgeboten. Ihre Gesundheit wird nicht überwacht, künftige Opfer werden in offiziellen Statistiken nicht auftauchen. Die Internationale Atomenergie Organisation IAEA in Wien rechnet in den kommenden Jahrzehnten mit 24.000 zusätzlichen Krebstoten, der US -amerikanische Arzt Robert Gale mit bis zu 75.000, je zur Hälfte in der UdSSR und dem weiträumig verseuchten Europa, John Gofman von der University of Berkeley erwartet insgesamt die Horrorzahl von über einer Millionen Opfern.

In verseuchten Gebieten Belorußslands, der Ukraine und der russischen Sowjetrepublik leben heute insgesamt zwischen dreieinhalb und vier Millionen Menschen. Den nach dem Unfall aus der 30-Kilometer-Zone evakuierten Einwohnern sollen weitere gut 100.000 folgen. Strahlenexperten gewinnen allerdings zunehmend den Eindruck, daß die Zahl der Evakuierungen sich an den materiellen, insbesondere finanziellen Möglichkeiten des wirtschaftlich gebeutelten Landes ausrichtet, nicht an den Notwendigkeiten. Die Schilddrüsen von 1,5 Millionen Menschen, davon 160.000 Kindern, wurden erheblich verstrahlt. 20 Prozent der Erwachsenen und 17 Prozent der Kinder erhielten Schilddrüsendosen zwischen 100 und 1.200 rem. In bestimmten Regionen hat sich die Zahl der Krebserkrankungen verdreifacht. Steigend auch die Zahl von Präleukämien und Leukämie, Erkrankungen an den Bronchien und schweren Lungenentzündungen. Allgemein ist bei vielen das Immunsystem als Ganzes geschwächt. Das Begriff „Tschernobyl-Aids“ setzt sich allmählich durch. Es gibt mehr Fehl- und mehr Totgeburten.

70.000 Quadratkilometer Land sind mit Cäsium137 verstrahlt, davon 25.000 mit mehr als 5 Curie/km2. Das entspricht etwa 185.000 Bequerel/m2. (In der Bundesrepublik lagen unmittelbar nach der Katastrophe die zu einem Großteil von schnellabklingendem Jod verursachten Spitzenwerte bei 100.000 bq/m2). Bis 15 Curie/km2 oder 550.000 bq/m2 gelten in der Katastrophenregion als für einen Daueraufenthalt erträglich. Regionen zwischen 550.000 und 1,5 Millionen bq/m2 wurde der Stempel „Zone permanenter Kontrolle“ aufgedrückt. Hunderte von Dörfern sind mit 60 Curie und mehr verstrahlt, die Spitzenwerte liegen heute bei fast 400 Curie/km2. Die Ortschaften sind weiter bewohnt.

Landwirtschaft ist den verseuchten Zonen eigentlich für Jahrhunderte unmöglich. Dennoch wird die landwirtschaftliche Produktion zum Teil sogar ausgeweitet. Die strahlenden Ergebnisse werden dann mit unverstrahlten Lebensmitteln aus anderen Regionen der UdSSR solange vermischt, bis die offiziellen Grenzwerte unterschritten sind. Die Bewohner der verseuchten Gebiete werden mehr schlecht als recht mit diesen Produkten versorgt. Die Lieferungen funktionieren nicht überall. Mangelerkrankungen, sogar Unterernährung nehmen unter denen zu, die sich an die Vorschriften halten.

Natürlich ist auch die Natur betroffen. Hunderte schwer geschädigter Kälber und Ferkel kommen zur Welt oder werden tot geboren, Pflanzen mutieren, riesige Waldflächen starben ab, wurden gefällt und vergraben oder einfach eingezäunt. Die Liste derartiger Horrormeldungen wird täglich länger.

gero