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Das Attentat

Lafontaine und die bundesdeutsche Politik  ■ K O M M E N T A R

In der Mediengesellschaft gibt es, so scheint es, nur zwei öffentliche Instrumente zur Selbstdiagnose der Gesellschaft: die Meinungsumfrage und das Attentat. Oberfläche und Tiefe, Meinen und Getrieben sein - als öffentliche Ereignisse scheinen sie den unvermittelten Blick in den Gesellschaftskörper zu geben. Es spielt keine Rolle, daß die prognostische Treffsicherheit geringer ist als die des Haruspex, der aus den Eingeweiden die Zukunft der römischen Verhältnisse voraussagte. Insbesondere das Attentat hat den Imperativ der Aussage, der Bedeutung. Das Attentat auf einen Politiker - unabhängig davon, was die Attentäter tatsächlich motivierte - wird sofort und zwangslogisch zum Projektionspunkt, an dem sich das Verhältnis Volk und Politik veräußerlicht. Wer hat nicht sofort gedacht, daß der Anschlag auf das Leben Lafontaine etwas zu tun hat mit der großen Umbruchsituation hierzulande?

Der Hinweis, daß die Attentäterin wahrscheinlich verrückt war, beruhigt nur in Grenzen. Natürlich atmet jeder auf, daß es offenbar kein politisches Attentat war. Aber verrücktes Tun ist nicht einfach verrückt, sondern auch politisch. Nicht weil jedes Attentat zugleich Propaganda der Tat, Aufforderung zur Nachfolge ist. Sondern es fragt sich, welche latenten Hoffnungen, Ängste, Zerstörungsdrohungen von der Frau aus Bad Neuenahr als buchstäbliche Anweisung zum öffentlichen Handeln genommen wurden. Etwas hat jedenfalls das Attentat zur schockhaften Erfahrung erhoben, was eigentlich selbstverständlich war: Die Person Lafontaines steht für Hoffnungen, und er steht da erschreckend allein. Man kann dem Kanzlerkandidaten Lafontaine bescheinigen, daß seine Chancen vor dem 9.November 1989 lagen; man kann dem Wahlkampfstrategen Lafontaine unterstellen, daß er als Rechthaber und Rechnungsprüfer der deutschen Einigung kaum Erfolg haben wird.

Als homo politicus ist er ein seltener Glücksfall um das öde Moderatoren-Wort vom Hoffnungsträger zu vermeiden. Bei aller Professionalität vertritt er die Nicht-Anpassung. Er ist ein Gegengift zum Parteimilieu, zur Herrschaft der Apparate. Seine Lebenslust zielt auf das Savoir-vivre ein Kontrapunkt sowohl zur Vollwertkost als auch zum Arbeitsessen. Seine Arroganz der schnellen Intelligenz ist Frischluft gegenüber den Prinzipienreitern des bundesdeutschen Wohlstandsfundamentalismus, die außerdem Gewichtsprobleme haben. Er ist vor allem um vieles glaubwürdiger ein Politiker der Überzeugungen, weil es ihm gelang, sich in den Lagern der deutschen Politik, wo die Kollektivüberzeugungen ausgebrütet werden, frei zu bewegen. Lafontaine repräsentiert die civil society, praktisch als einziger in der deutsch-deutschen Politikerszene, der glaubhaft ein europäisches Deutschland vertreten könnte. Um so erschreckender das Attentat. Es ist der Schock, daß um die sprichwörtliche Haaresbreite mit der Person Lafontaine eine Dimension aus der deutschen Politik verschwunden wäre, um deren Chance es einem ohnehin bange ist.

Klaus Hartung

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