: Bürgerkrieg in den Bergen Türkisch-Kurdistans
■ Seit das türkische Militär Ende März das Feuer auf eine friedliche Demonstration eröffnete, herrscht Krieg in Kurdistan. Die Kurden solidarisierten sich massenhaft mit der Guerilla der Arbeiter- und Bauernpartei (PKK), die seit sechs Jahren in den Bergen kämpft. Seitdem haben sich die Auseinandersetzungen auch auf die kurdischen Städte ausgedehnt. Die Militärs antworteten mit der Einführung des De-facto-Kriegsrechts.
Cizre am Tigris - eine kurdische Stadt mit rund 60.000 Einwohnern, einst blühendes Zentrum an der Seidenstraße. Statt Seidenkarawanen donnern heute Tag für Tag Tausende Erdöltanker, die aus dem Irak kommen, durch die Stadt. Cizre stinkt. Die Erde hat sich vollgesaugt: mit abgelassenem Erdöl und den offen abgeleiteten Abwassern, die mitten in der Stadt zu Tümpeln geworden sind. Kinder, nicht älter als acht bis neun Jahre, sammeln sich um die Fremden, die Hand ausgestreckt zum Victory-Zeichen. „Biji, biji Guerilla“, „Biji, biji Kurdistan“ - Es lebe die Guerilla, es lebe Kurdistan, rufen sie. Bevor die schwerbewaffneten Sondereinsatztruppen - Rambos genannt - eintreffen, sind die Kinder verschwunden.
Die für ihre Brutalität bekannten Truppen rächen sich mit einer Razzia im nahegelegenen Kaffeehaus. Ausweiskontrolle. Ein Mitglied des Einsatzkommandos mit schwarzer Sonnenbrille und Kaugummi im Mund grinst dem Treiben der Kollegen zu.
Wahllos wird auf ein paar kurdische Jugendliche eingeschlagen: „Ihr Hurensöhne“. Journalisten? „Wo ihr hinkommt, beginnt es zu stinken. Das nächste Mal brechen wir eure Knochen.“
Es sind Wochen vergangen seit dem Blutbad am 20. März. Im Zuge einer friedlichen Demonstration aus Protest gegen die Ermordung eines Kurden durch Militär im benachbarten Nusaybin eröffnete die Armee das Feuer auf die Menschenmenge.
Schüsse als Auslöser für die kurdische Intifada
Die Schüsse waren der endgültige Auslöser für das, was später türkische Zeitungen als „kurdische Intifada“ bezeichneten. Frauen und Kinder, die mit Steinen gegen Panzerwagen vorgehen. Öffentliche Gebäude, die in Brand gesteckt werden. Geschäftsinhaber, die die Rolläden ihrer Geschäfte herunterlassen. Vier Kurden wurden erschossen, ein Zwölfjähriger starb unter den Ketten eines Panzerspähwagens
-ein „Verkehrsunfall“, wie später das Krankenhaus attestierte.
Die Razzien dauern an
Dort, wo sich die Menschen vor Denunzianten und Militär sicher wiegen, in den armseligen Lehmhütten und den kleinen Läden, weht immer noch die Fahne des Aufstandes, die ihre Heroen hervorgebracht hat: „Süleyman ist auf den Panzer gestiegen und holte den Fahrer raus. Er hätte ihm fast den Garaus gemacht, hätte er nicht einen Bajonetthieb abgekriegt. Seine beiden Beine sind von den Ketten des Panzers zermalmt. Er selber ist nun auf der Folter, auf der Wache.“ Die Verletzten, die nicht in die Hände der Sicherheitskräfte fielen, verstecken sich. Hunderte sind festgenommen worden. Die Razzien dauern an.
In Haft wegen LKW-Reflektoren in den
kurdischen Farben
In regulärer Untersuchungshaft sitzen 94 Bürger Cizres, im Alter zwischen 15 und 35 Jahren. „Allesamt Bauernsöhne, die hier in Cizre arbeitslos sind oder Gelegenheitsarbeiten verrichten“, sagt Rechtsanwalt Orhan Dogan, der die Angeklagten vertritt. Unter ihnen der Panzerfahrer Ramazan Uykur, der am unglückseligen 20. März aus dem Irak in die Türkei reiste. Er hatte grüne, gelbe und rote Reflektoren auf seinen Laster gepinnt. Geht es nach dem Staatsanwalt, soll er wegen „dem Hissen der kurdischen Flagge“ bestraft werden. Ein Straftatbestand, den es im türkischen Strafgesetzbuch gar nicht gibt.
„Wir ersticken im Dreck“
Armut und Terror haben Hunderttausende kurdische Bauern aus dem Grenzgebiet in nahegelegene Städte wie Cizre verschlagen. Jahr für Jahr entstehen neue Siedlungen Baracken und armselige Hütten. Der gewaltige Wasserspender großer Kulturen, der Tigris, verläuft durch die Stadt. „Unsere Trinkwasserversorgung beruht auf dem Tigris. Cholera und Typhus grassieren in der Stadt“, klagt Bürgermeister Hasim Hasimi von der islamischen „Wohlfahrtspartei“. Weil nicht die Regierungspartei bei den Kommunalwahlen gewann, wurden sämtliche Regierungssubventionen gestrichen. Die Stadtverwaltung kann seit 20 Monaten an die städtischen Arbeiter und Angestellten keinen Lohn auszahlen. „Wir ersticken im Dreck. Meine Arbeiter hungern. Sie können sich nicht mehr in die Geschäfte trauen, weil sie bis zum Hals verschuldet sind“, sagt der Bürgermeister, der fast allseits Anerkennung genießt, doch zur Erfolglosigkeit verdammt ist. Während der türkische Staat Milliarden für das Salär der sogenannten Dorfmilizen - in der Regel reaktionäre kurdische Stammesverbände, die staatstreu sind - ausgibt, spielen die Kinder Cizres in den Abwässergruben.
Die äußeren Spuren der Gewalt vom 20. März versuchen die Behörden zu beseitigen. Doch die Unterkünfte der verhaßten staatlichen Kohlebetriebe, die während der Ereignisse in Brand gesteckt wurden, stehen nur noch als Stahlskelett. Daneben eine ehemalige Polizeiwache. Nur notdürftig ist das Graffito übertüncht. „PKK“ haben die Demonstranten draufgeschrieben.
Der Einfluß der PKK wird immer größer
Die PKK (Partiya Karkeri Kurdistan/Kurdische Arbeiterpartei) führt seit sechs Jahren einen bewaffneten Kampf für ein „unabhängiges Kurdistan und die Befreiung der Kurden von der türkischen Besatzungsarmee“. Die PKK machte sich mit Anschlägen auf kleine militärische Einrichtungen einen Namen. Ihr Einfluß war anfangs recht gering. Sie wurde in einem Atemzug mit stalinistischen „Liquidierungen“ in den eigenen Reihen und Todeskommandos, die Frauen und Kinder der Milizionäre töteten, genannt. Heute ist die PKK nicht nur zu einer schlagkräftigen Guerillaorganisation geworden, die militärisch weiträumig in der gebirgigen Grenzregion zu Syrien, dem Irak und dem Iran operiert, sondern auch über Massenanhang in den kurdischen Städten verfügt.
„Heute bekennen wir uns
zu unseren Toten“
Die Grenzregion - Operationsgebiet der PKK - wurde entvölkert. Tausende Dörfer wurden zerstört. Die Bauern wurden entweder vom Militär deportiert oder flohen aus Angst vor dem Terror. Der staatliche Terror - die Razzien in den Dörfern, die Folterungen, die Mißhandlungen und die getöteten Zivilisten - trug viel dazu bei, das Umfeld der PKK zu stärken. Noch vor Jahren bekannte sich kein kurdischer Angehöriger zu einem getöteten Guerillakämpfer. Niemand nahm an Beerdigungen teil. Heute sind Beerdigungen von getöteten PKK-Militanten zum Funken der kurdischen Intifada geworden. Ob in Städten wie Silopi, Cizre oder Nusaybin - stets war die Beerdigung eines PKK-Mitgliedes Auslöser der Aufstandsbewegung. „Heute bekennen wir uns zu unseren Toten“, hört man überall.
„Die Menschen auslöschen“
„Ein Gangrän, das amputiert werden muß“, soll Exminister Adnan Kahvecib gesagt haben, der im Rahmen einer sechsköpfigen Delegation nach den Vorfällen in Cizre besuchte. Der Brigadekommandant von Hakkari, General Altay Tokat, hatte bereits August vergangenen Jahres die Stoßrichtung angegeben: „Nach meinem System können wir die in kürzester Zeit vernichten. Nach meinem System wächst dort weder Mensch noch Gras. Wir haben bisher nur unsere leichten Waffen eingesetzt. Unser südlicher Nachbar hat mit einer einzigen Militäroperation die Menschen, die seit 50 Jahren Krieg gegen den Staat führen, ausgelöscht. Wenn wir wollen, können wir die in kürzester Zeit vernichten.“
Längst bestimmt nicht mehr Parlament und Regierung die Politik in den kurdischen Gebieten. Die Generäle im sogenannten „Nationalen Sicherheitsrat“ geben den Ton an. Sie waren es auch, die die Regierung drängten, das jüngste Dekret mit Gesetzeskraft zu verabschieden, das grundlegende bürgerliche Rechte und Freiheiten in der Region aufhebt. Hayri Kozakoiolglu, Supergouverneur über die elf kurdischen Provinzen, wo der Ausnahmezustand herrscht, ist damit zu einer Art Alleinherrscher über Türkisch-Kurdistan geworden. Er kann Menschen aus ihrer Heimat verbannen, Richter absetzen, Zeitungen verbieten und Strafverfahren gegen Soldaten unterbinden.
Während früher in Einzelfällen türkische Tageszeitungen über staatlichen Terror berichteten, werden heute nur noch Meldungen im Sinne der Verwaltung abgedruckt. „Frühlingsoffensive der PKK niedergeschlagen. Innerhalb von 53 Tagen seit dem 1. März wurden insgesamt 162 separatistische Militante, davon 68 tot, gefangengenommen“, meldet die große Tageszeitung 'Hürriyet‘, die folgendes über die Ursachen berichtet: „Das Volk in der Region sagt: 'Wir haben keine Angst vor der PKK. Wir haben volles Vertrauen in den Staat.'“ Dies in einem Landstrich, wo Woche für Woche Hunderte wegen Komplizenschaft mit der PKK auf die Folterwachen wandern und Tausende wegen der Gewährung von Unterschlupf für die Guerilla im Gefängnis sitzen.
Mit Fäusten und Steinen
gegen die Soldaten
In den Elendsbaracken der kurdischen Städte, dort, wo die jugendlichen Habenichtse aus den Dörfern Zuflucht gefunden haben, spürt man den Haß auf das Militär. Die Jugendlichen waren es auch, die mit bloßen Händen und Steinen auf Soldaten losgegangen sind. Sie stellen das Rekrutierungsfeld der PKK. Doch auch die Händler, die reicheren Ladenbesitzer haben sich in der ganzen Region dem mehrtägigen Protest gegen das Militär angeschlossen. In Batman blieben die Geschäfte zu, obwohl Sondereinsatztruppen als Strafe mehrere tausend Schaufenster mit Hämmern zerschlugen. „Wir Händler sind für das Geschäft und richten unsere Fahnen nach dem Wind. Der Wind hat sich halt gedreht“, klärt mich einer der reichsten Männer Batmans auf.
Türkische Parteien verlieren
völlig an Einfluß
Die im türkischen Parlament vertretenen politischen Parteien haben fast gänzlich ihre Bedeutung in der Region verloren. Nur noch dort, wo archaische Strukturen herrschen, wo das Wort des kurdischen Stammesführers wie Gottes Wort zählt, gelingt es Parteien, über die Nominierung des Stammesführers zum regionalen Parteiführer Terrain zu gewinnen. In dem 150.000 Einwohner zählenden Batman mit seinen Erdölfeldern und der ersten Raffinerie mit kurdischen Industriearbeitern ist solcherlei überholt. 1.511 Mitglieder zählte die „Sozialdemokratische Volkspartei“ noch vor einem halben Jahr. „Nach dem Ausschluß von sieben kurdischen Abgeordneten aus der Partei wegen Teilnahme an einer internationalen Kurdenkonferenz in Paris traten binnen zehn Tagen 960 Parteimitglieder aus“, berichtet Salih Aktan, der ehemalige Ortsvereinsvorsitzende. „Heute hat die Partei vielleicht zwei Dutzend Mitglieder“, spottet er.
Guerilla in Sichtweite
Die Provinzhauptstadt Siirt, am Fuße einer Gebirgskette gelegen, gleicht einer militärischen Festung. Vor kurzem erst ist die Guerilla des Abends ins Dorf Gökcebag eingedrungen. In Sichtweite zur Stadt - Luftlinie vielleicht fünf Kilometer. Die Guerilla informierte Militär und Präfektur in Siirt über ihren Standort. Das Militär wartete bis zum nächsten Morgen, um dann mit schweren Waffen und Hunderten Soldaten Richtung Dorf vorzurücken. Die Guerilla hatte sich natürlich längst verdrückt.
„Verflucht sei dieser Ort“
Razzien durch das Elendsviertel Cakmak waren früher gang und gäbe. Heute traut sich das Militär nach Anbruch der Dunkelheit nicht mehr hinein. Frauen und Kinder der Beamten und der Polizei sind hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. In Militärbussen, begleitet von Gendarmen und Soldaten, werden die Kinder zur Schule gefahren. Manchmal sitzen die Schüler auf Matratzen, die auf den Boden des Busses gelegt werden. Aus dem Fenster schauen könnte Gefahr bedeuten. „Verflucht sei dieser Ort. Hier ist es schlimmer als im Gefängnis. Du kannst noch nicht einmal ihre Sprache“, klagt ein junger Beamter, der aus dem Westen nach Siirt versetzt wurde. „Seit Monaten wache ich nachts auf und schreie.“
Ein Dorf in der heißen Zone
Einen halben Tag Fußmarsch durch das Gebirge nehmen wir in Kauf, um in jenes Dorf zu gelangen, dessen Namen wir nicht preisgeben werden. Ein Dorf in der heißen Zone. Ein Dorf, das das türkische Militär Jahr für Jahr überfällt. Ein Dorf, wo Folter durch das Militär als natürliche Kollektivstrafe gilt. Ein Dorf, wo viele junge Männer in die Berge, zur Organisation, zur PKK gegangen sind. Zwei kleine Kinder, vielleicht sechs, vielleicht sieben Jahre alt, spielen neben einer Mauer. Sie spielen Wirklichkeit. Der eine hat die Beine gespreizt und mit dem Gesicht zur Mauer die Hände erhoben. Das andere Kind macht Leibesvisitationen. Sie sprechen kurdisch, nur einmal verstehe ich einen Wortfetzen türkisch: „Verrecke, Hundesohn.“
„In Istanbul werden
Bomben hochgehen“
Ein Fünfundzwanzigjähriger, der so aussieht wie vierzig, empfängt uns. Wir reden über das Dekret der Regierung. „Wird es Folgen haben?“ „Uns betrifft es nicht, wir sind den Terror gewohnt. Aber die doppelzüngigen kurdischen Intellektuellen, die an Gesetz und Recht glauben, haben es jetzt mit der Angst zu tun gekriegt.“ „Die Zukunft?“ „Die Organisation sagt, das, was wir jetzt tun, ist kein Terror. Ihr Türken massakriert unschuldige Kurden. Hier bei uns sterben Unschuldige, nicht bei euch. Wenn es so weitergeht, werdet ihr bald merken, was Terror bedeutet. Wenn Bomben im Istanbuler Bahnhof hochgehen. Wenn in den Touristenhotels die Bomben hochgehen. Es sterben Unschuldige? Ja, auch bei uns sterben Unschuldige. Unschuldiges Blut wird fließen.“
In der kurdischen Metropole Diyarbakir hat der türkische Staat ein Blechtransparent im Boden über die Straße gespannt: „Die unzivilisierten Nationen sind dazu verurteilt, unter den Füßen der zivilisierten Nationen getreten zu werden.“
öe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen