piwik no script img

Wie die Randale bis nach Lichtenrade kam

■ 150 ausländische Jugendliche fuhren mit der BVG von Kreuzberg nach Lichtenrade / Sie suchten die „Faschos“ - doch es traf nur Edeka

West-Berlin. „Türkiye, Türkiye“ rufen sie, einige auch „Jugo, Jugo“ oder „Italia“, als sie am Halleschen Tor den Gang zum Bahnsteig Richtung Alt-Mariendorf herunterstürmen. Stimmengewirr auf türkisch und deutsch, ab und zu sprühen einige Graffiti an die Wände und traktieren die Neonlampen an der Decke mit Stöcken, doch ihre Anführer rufen zur Ordnung. Am Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg hatten sie sich kurz nach 15.30 Uhr in Bewegung gesetzt - etwa 150 vor allem türkische Jugendliche. Sie wollen nach Lichtenrade: Dort hätten sich „die Faschos“ verschanzt, sagt das Gerücht.

Die jüngsten Mitglieder der Gang sind vielleicht zehn, die ältesten gerade doppelt so alt. Im U-Bahnhof Hallesches Tor klettern einige übermütig das Gestänge hoch, doch die BVG -Ausruferin reagiert nachsichtig. Nein, sie werde die Polizei nicht rufen: „Ihr seid ja vernünftig“. Die Anführer der Gang wollen sie überreden, ihnen kurz für eine türkische Durchsage das Mikrofon zu überlassen. Das lehnt die BVG-Frau ab.

Bis zum U-Bahnhof Alt-Mariendorf fährt die Gruppe, dann geht es weiter mit dem Doppeldecker. Der Bus ist gestopft voll: „Die Faschos hauen doch schon ab, wenn sie uns nur sehen“, freuen sich einige über ihre Stärke. Plötzlich kommt es zum Aufruhr: Eine junge Frau, die eben aufgestanden ist, um den Bus zu verlassen, haut einem jungen Türken eine runter, zieht ihn empört an den Haaren: „Was greifst Du mir in den Arsch? Ich bin keine deutsche Nutte!“ Betroffenes Schweigen: Sie ist eine Türkin. „Er wußte ja nicht, daß Du eine Türkin bist“, entschuldigt man den Kameraden.

Die Fahrt der Kids hat zwar in Kreuzberg begonnen, trotzdem kennen sie sich auch in Lichtenrade aus. „Duckt euch“, geht der Ruf durch das völlig überfüllte Oberdeck - kurz danach passiert der Bus ein Polizeirevier. Eine Haltestelle vor der Endstation wollen sie ausstiegen, doch der Busfahrer macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Er fährt einfach weiter - und als seine jungen Fahrgäste den Bus dann Ecke an der Nahariya-/Skarbinastraße verlassen, ruft er per Funk die Polizei. Die Kids schwärmen über die Straße, im Edeka-Markt an der Ecke klirren die Scheiben, auch Mollis fliegen, zünden aber nicht. Die Anwohner stürzen auf die Balkone: Randale im stillen Lichtenrade! „Schweinepriester!“, schimpft ein Mann den Jugendlichen hinterher. Sie sind längst zwischen den Hochhäusern verschwunden, als einige Minuten später die Polizei anrückt. Ein halbes Dutzend von ihnen werden doch noch erwischt - es sind die jüngsten. Und ein Lichtenrader Steppke bewundert die kaputten Scheiben der Telefonzellen: „Saubere Arbeit.“

Die „Faschos“ sind der Attacke erstmal entkommen. Drei Glatzköpfe mischen sich unter die Schaulustigen, nachdem die Polizei den Platz besetzt hat - die Meldung von den „Faschos“ in Lichtenrade war kein Gerücht. Drei Stunden vor dem Anrücken der Faschojäger hatte die Polizei in Lichtenrade einen 17jährigen Deutschen wegen „unerlaubten Waffenbesitzes“ festgenommen: Er hatte vor seinen Kameraden eine Pistole aus dem Hosenbund gezogen und stolz vorgezeigt

-eine Schreckschußpistole mit 17 Gas- und einer Platzpatrone, wie die Polizei später feststellte. Sie fand außerdem vier Gaspistolen, zwei Ketten, eine Metallstange, eine Zwille mit Armstütze und zwei Küchenmesser.

hmt

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen