GESEGNETES VOLLPUMPEN

■ „Die künstlich gesteuerte Seele“ hinterm Bahnhof Zoo - Ein Fachvortrag über die Wunderwelt der Drogen in der Lessing-Hochschule

Gelegentlich erlaubt das freie Schaffen für die taz ein Wahrnehmen und Nachspüren jener obskursten aller Massenhalluzinationen - des Normalen. Da gibt es also Anlässe, die sonst seltenst Wirklichkeit in Zeitungsspalten und grob gerastertem Bild werden, ein Grillabend von Heimwerker-Esoterikern beispielsweise, oder die Ausstellung eines Heimatmuseums, die lokale Geschichtssplitter zeigt. Am Montag abend veranstaltete die Lessing-Hochschule ein Seminar zur „künstlich gesteuerten Seele“. Kurz hinterm Bahnhof Zoo findet sich dieser Ort aufklärerischer Anstrengungen, in einem Haus mit dem gelblichen Chic der Fünfziger, abblätterndem Putz und breite Treppen und das einem ständig das Gefühl gibt, sich ständig ducken zu müssen und irgendeinen bösen Fehler gemacht zu haben. Dort sprach Dr. Klaus Thomas, gerade von einem Vortrag in Witten -Herdecke zurückgekehrt, von der „Ruhe für die Seele durch 'Chemie'“. Pillen gegen Sex und Gott

Etwa 30 Interessierte hatten sich eingefunden. Da gab es die im schwarz-weiß-quadrierten Jackett, mit so einem richtig schlimmen, schief gesägten Sci-Fi-Haarschnitt der Sechziger, eine andere räkelte sich in grell-rosa Kunstseide, doch wie immer waren die Herren eindeutig besser gekleidet: in braun -blau gestreiftes Jackett gehüllt und darunter ein roter Pullover mit Brigitte-Strick-Muster, oder jener in dunkelbrauner Hose und Pullover, darunter ein blaues Hemd und dazu - weil einfach und bequem - Turnschuhe. Ein Dia -Projektor und ein Over-head-Projektor standen verheißungsvoll aufgebaut, von draußen fielen noch weiche Sonnenstrahlen über schlichte Holzstühle und mich überkam jene anheimelnde, beruhigende Müdigkeit, die Lehrveranstaltungen üblicherweise zu einem Reigen bunter Traumbilder werden lassen, Gemurmel und Füße-Gescharre, das kaum vernehmbare Geräusch des eifrigen Mitschreibens und das rhythmische Klacken von Diktaphonen, deren Kassetten umgedreht werden wollen. Die Hintergrundgeräusche der Stadt draußen und die - meist - tonlosen Worte des Vortragenden vermischen sich im Kopf mit Gedanken an den letzten Urlaub, die Freundin usw. Dann dämmerst du vor dich hin, bis dein automatischer Scanner im Kopf höchste Aufmerksamkeit signalisiert. Was sagte er gerade? „Das kriegen Sie heute nirgendwo mehr zu sehen!“ Daß sich nämlich die Insassen von Nervenkliniken früher fast ausschließlich mit ganzer Energie sexuellen und religiösen Themen widmeten. Heute spenden die PSY!-CHO!-PHAR!-MMA!-KKA! Ruhe für die Seele.

Das schreckte auf. Dort saß ein kleiner, an Honecker erinnernder Mann hinter einem Tisch mit Papierhaufen und einem Milchglasbecher Wasser und sang der Hörerschar das Mantra der chemischen Heilmittel: die Neu-ra-lepp-ti-kka! („ach, wenn es denn so wäre, daß wir die Psychosen berechnen könnten“), die Tran-qui-li-zer! (“...in der geschlossenen Anstalt einer Klinik...“, ein vages Grauen zieht durch den Raum, macht Gänsehaut), die An-ti-de-ppress-i-va! („Gott segne das Vollpumpen, wenn es das Leben rettet!“ Hier sprach ein Veteran, das ahnte man, der schon viele Kämpfe um die Rettung von Menschen ausgefochten hatte.

Thomas arbeitete im Klinikum Marburg, sowohl als Geistlicher als auch als Leiter der Nervenklinik. In Basel war er Mitarbeiter von Prof. Kielholz gewesen, einer Autorität auf dem Gebiet der Medikamentenabhängigkeit. Und weiter sang er also von PPSY!-CHOO!-STI!-MUU!-LAN!-TIAA!, von Weck-a-mi-nen und depressionsvorbeugenden Stoffen wie den Li-thi-umm-Gruppen. 1982 gaben die Bundesbürger eine Milliarde DM für Tranquilizer aus, das sind zehn Prozent des gesamten Medikamentenaufwandes, womit 200 Tagesdosen auf 1.000 Einwohner kämen. „IST DAS NÖTIG?“ Natürliches Müdwerden

Das Referat mäanderte hin und her, von der PO!-LY!-TTO!-XI! -OOO!-MA!-NIE! insbesondere junger Leute spricht er kurz, baut kichernd eine „kleine Anekdote“ ein und senkt verschwörerisch die Stimme: „In der Öffentlichkeit hört man ja nichts von der Suchtgefährdung durch Alkohol und Nikotin!“ Dem Stichwort Schlafmittel folgt ein kurzer Exkurs über den „gesunden Schlaf„; das „Warten auf die natürliche Müdigkeit“ gehöre dazu, die MO!-NO!-TO!-NIE! von SIN!-NES! -REI!-ZEN! helfe, gleichmäßige Geräusche oder Erschütterungen, also - „ich bin heute mit der Eisenbahn aus dem Ruhrgebiet hergefahren und bin dabei eingeschlafen“ die Hinwendung nach Innen sei nötig und auch die Beschäftigung mit euphorischen Phantasieinhalten, „das vermisse ich in den entsprechenden Lehrbüchern“. Sagt's und empfiehlt die „sorgsame Pflege“ erotischer, sexueller Phantasiegebilde, das sei eine WOHL!-TAT!. „Wo gibt es denn eine ECH!-TE! PFLE!-GE! erotischer Phantasien?“ Wohl wahr.

Über die Punkte Professor Kielholz in Basel, Medikamentenabhängigkeit und autogenes Training, bewegt sich Thomas wieder auf das Leitmotiv seines Vortrags zu: die „Kinder des Todes“ und der „Segen der Drogen“. Er berichtet von dem „Abenteuer der ME!-DI!-KKA!-MENN!-TION!“, wie festzustellen welches Präperat zu welchem Zeitpunkt der Behandlung welcher Krankheit welchen Patienten Genüge tut? „Es gibt nicht die Medikamention für die Psychose!“ Und ein leiser Stolz festigt die Stimme, als er, der Praktiker, fast trotzig betont, er habe da mehr gelernt, als jeder zuvor. Milch ist ein Stück Lebenskraft

Anschließend singt er - mal langsamer, mal schneller - „das interessiert uns jetzt nicht„ - von den Gründen für die Ablehnung der Medikamente. Da gäb es den Einwand der Gefahr der Abhängigkeit, aber „wir sind doch alle abhängig und müssen es wohl sein! Wir müssen alle atmen, wir brauchen alle einen Schluck Wasser!“ Ob dieser energisch vorgetragenen These stockt der Atem, dann bricht sich Widerspruch Bahn. Ein Zuhörer weist darauf hin, daß „der Vergleich hinkt. Wasser brauche ich nur einen Schluck am Tag, aber die Menge der Medikamente steigt doch an“. „Aber NEIINN!“ fährt der Referent auf und erinnert uns, daß Wissenschaft materialistisch ist, denn was er sagen wolle sei, daß alle Nahrung aus Chemikalien bestehe und es darauf ankomme, „die richtige Menge“ von diesen dem Organismus zuzuführen.

Nebenwirkungen? Da kann Thomas nur „Mundtrockenheit“ feststellen, gegen die „ein Glas Milch oder Flüssigkeit“ helfe. Er nennt „Hypnose“, „Homöopathie“ („Sehr schön, sehr schön, aber...“), deren Anwendung anstelle der Medikamente Patienten von ihm verlangen würden, „die wollen Hypnose, kriegen sie nicht, das muß ich tragen“. Denn, Depression sei keine „Erkrankung der Seele“, sondern eine „chemische Stoffwechselstörung“ und Hypnose bringe den Stoffwechsel nun mal nicht in Ordnung. Es gehe hier „um die ersten Fragen der Forschung und nicht um Politik!“ Teufelsdroge Alkohol

Der Laie schweigt und lauscht einem anderen Hymnus: Zahlenkolonne nach Zahlenkolonne, das Mysterium der zehn Prozent und andere Zahlenkolonnen beschwören den schrecklichen Götzen ALL!-KOO!-HOO!-LISS!-MMUSS! Erneut weiß Thomas die durch die Menge statistischen Materials erzeugte, einsetzende Lähmung durch „Plaudern aus der Schule“ aufzulösen. Als Mitbegründer eines der ersten Blau-Kreuzler -Vereins kennt er die wichtigsten Hilfsmittel im Kampf gegen diese Sucht, „Hypnose und autogenes Traning zeitigen die größten Erfolge“. Doch, leider, leider, sind für „die Adventisten, die großartige Arbeit“ an der Alkoholismusfront tun, Hypnose und autogenes Training „Werke des Teufels“. „Wer sagt, daß das vom Teufel kommt?“ möchte der Widersprecher von zuvor wissen. „Ich weiß, daß ich Ihnen einige Dias zeigen sollte“, kommt der Referent ebenso plötzlich wie überflüssig zum Ende. Doch wir sehen keine Dias von zerrütteten Alkohilikerlebern, keine Abbildungen mysteriöser dunkler Schatten auf den Lungenflügeln von Rauchern, auch keine Agfa-Color-Aufnahmen von braunhäutigen Amphetamin-Usern, oder gar grelle Zeugnisse souveräner Selbstmodifikation des Körpers, nein, etwas hölzern wackelt Thomas stattdessen zum Overhead-Projektor und zeigt uns, wie ein alter, erfahrener Praktiker mit modernem, didaktischem Material dilettiert; „die Folie liegt ein bißchen schief“, stellt er fest und verdreht sie in die andere Richtung. Wir erkennen eine Statistik („Naja, die Tabelle scheint jemand erstellt zu haben, der etwas parteiisch war.“ Recht so.), die einmal mehr seine Worte unterstreicht, daß größere körperliche, psychische, soziale und Abhängigkeitsgefahren von Nikotin und Alkohol ausgehen, als von Benzodiozepinen weiß der Teufel, was das ist.

Aber Moment mal, erinnert das wißbegierige Publikum, es sollte auch zum Thema „RAUSCHGIFT“ (Huch!) gesprochen werden. Ja, lächelt Dr. Klaus Thomas wissend, es sei auch nicht seine Absicht gewesen, solches zu unterschlagen und schlägt bedeutungsvoll die Hand auf den Aktenkoffer, die Manuskripte seien nur zufällig in dem Koffer geblieben. Dann lehnt er sich auf seinem Holzstuhl zurück, faltet die Hände über dem Bauch. Offensichtlich steigen ihm schöne Erinnerungen in den Kopf, spielen über das Gesicht. „Vor 20 Jahren gewannen die Fragen des Rauschgifts, des HA!-SCHI! -SCHS! und des ELL!-ESS!-DEES! enorme Bedeutung. Ich nahm bei Professor Kielholz an einer Reihe von Selbstversuchen teil, bis ich alle möglichen Erlebnisse kennengelernt hatte. Sie haben mir nicht leidgetan.“ Unvergeßliche Selbstversuche

Da gehst du also eines schönen Montag abends, während sich Großteile der Bevölkerung verbiesterte Gedanken zum 1. Mai machen, in eine heruntergekommene Lehranstalt hinterm Bahnhof, sitzt da, und plötzlich offenbart sich dir der Referent als Zeitzeuge. Er gehört zu den Männern und Frauen, die sich mutig an die Erforschung der terra incognita der menschlichen Psyche machten und zum Wohle der Wissenschaft, späterer Patienten und einer ganzen Kultur -Epoche (!) die legendären, inzwischen verfemten HA!-LLU! -ZII!-NOO!-GE!-NNE! einnahmen. „Der beste Zugang zu dieser Thematik wird sein, wenn ich Ihnen eigene Erlebnisse berichte...“ (Erinnert sich noch jemand? LSD? Psilocybin? Marie Johanna?) Thomas und seine Kollegen nahmen im Abstand von einer Woche - „einige Tage brauchten wir für die Vorbereitungen, 1, 2 Tage zum Erleben“ - Psilocybin und führten über ihre Erfahrungen Protokolle. „Was sind das für Erlebnisse?“ Eindeutig sei eine „gehobene Stimmung“, ein „Glücksgefühl“, ein „religiöses Erlebnis“ zu verspüren gewesen. Thomas thematisiert kurz, ob dies „echte“ religiöse Erlebnisse seien, verweist auf einen TIM!-O!-THY! LEA!-RY!, der den Gebrauch von Drogen in einen religiösen Kult eingebunden habe, schließt jedoch, daß für weniger stark religiöse Menschen das erhabene Schauern des Rausches nicht zu einer bleibenden religiösen Verwandlung führe. Anders sei das bei „erfahrenen“ Usern.

Ein harter Brocken für die Hörerschaft. „Aber Haschisch macht doch abhängig?“ (Genau wie Kernseife! d. säzzer) Ja, das sei richtig, und man bezeichne es auch zu Recht als Einstiegsdroge, doch habe es sich bei weitem nicht also so gefährlich erwiesen, wie man in den Dreißigern (???) gedacht habe. Der schon mehrfach sich neugierig gezeigte Frager möchte wissen, „man hört ja, daß die dann Farben sehen und Töne hören können“, Unglauben in der Stimme, „stimmt das wirklich?“ Ja, Dr. Klaus Thomas bestätigt „einmalige Erlebnisse“, die er nicht „missen“ möchte. Es plänkelt dann noch ein bißchen zwischen Publikum und Redner hin und her, jemand möchte den Morphinisten „guter“ und den Kokainisten „böser“ machen, eine Frau schreibt fest, daß Einstiegsdroge gleich Droge gleich schlecht sei, dies und das, und dann spricht Thomas noch den Satz „Der Zustand des Rausches gilt als besonders erstrebenswert“.

Der Referent weist noch auf sein vergriffenes, aber demnächst wieder erscheinendes Buch „Die künstlich gesteuerte Seele“ hin. Das Publikum geht nach vorn und ersteht Manuskripte der letzten beiden Vorträge - letzte Woche war das Thema „Gehirnwäsche früher und heute“ gewesen. Leider ist hier kein Raum, Thomas‘ Überlegungen zu diesem anregenden Sujet, welches so erfrischende Einsichten in die Mannigfaltigkeit menschlicher Kreativität gewährt, darzulegen. Ein verirrter Hippie in verwaschenem Blau erkundigt sich nochmals nach dem Buchtitel. Und irgend jemand sagt noch: „Wir haben fleißig geseufzt.“ Ein schöner, ein treffender Schlußsatz.

R.Stoert

Am kommenden Montag referiert Dr. Thomas zum Thema „Hypnose als Übertragung des Willens oder als Heilungsweg der Wissenschaft“. Angesprochen werden Hypnose in Geschichte und Gegenwart, Verbrechen durch Hypnose (?), Hypnose als magischer Mißbrauch von Macht oder Quelle der Kraft für Kranke.