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Wo Linke lieber Rechte sind

Trotz der Zählebigkeit der KP in der UdSSR sind die Begriffe ins Rutschen geraten / Peripherie wie Zentralen sind nicht weniger rastlos als die Parteien im Westen  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Michail Maljutin, Dozent an der Moskauer Parteihochschule und wie sein Direktor Schostakowskij ständig von der Entlassung bedroht, bringt die Frage auf den Punkt: „Taugen Begriffe wie 'rechts‘ und 'links‘ überhaupt noch zur Kennzeichnung eines politischen Spektrums - oder ersetzen sie es nicht vielmehr bereits?“ Fest steht: wenn in der UdSSR Begriffe ins Rutschen kommen, ziehen sie heute auch in der Regel Posten und vor allem deren Inhaber mit hinab. Und so weiß Maljutin aus bitterer Erfahrung: „Die Wörter 'links‘ und 'rechts‘, als politische Allgemeinplätze, dienen bei uns in der Partei heute vor allem dazu, Warnungen auszuteilen. Erspäht einer irgendwo eine Rechtsabweichung, muß aus Symmetriegründen auch gleich irgendwo eine Linksabweichung denunziert werden.“

Dabei sind die herrschenen Ideologie-Hüter freilich nicht sonderlich konsequent: „Das Recht, etwas als Marxismus -Leninismus zu bezeichnen, endet in der Regel abends gegen neun Uhr - am nächsten Morgen jedenfalls gilt schon wieder etwas ganz anderes. Wer daran zweifelt, soll sich nur an die Debatte um die Einführung der Präsidialrepublik erinnern oder an die Abschaffung des Artikels 6 der Verfassung - der die Vorherrschaft der Partei bestimmt hatte: beide Neuerungen, noch letztes Jahr als absolut unmarxistisch verurteilt, wurden nun lauthals anerkannt.“

Probleme gibt es aber nicht nur in den hohen Sphären der offiziellen Doktrin - sie häufen sich auch im volkstümlichen Verständnis herkömmlicher Einordnungsschemata. Zwar bekommen, stellt Maljutin fest, „solche Begriffe dort zwar durchaus einen Sinn - aber einen ausgesprochen paradoxen: Weil der Totalitarismus in unserer Geschichte Begriffe wie zum Beispiel 'links‘ monopolisiert hat, werden Ränder des politischen Spektrums namenlos.“

Doch da ist noch mehr - „eine gewisse Geistesverwirrung bei uns selbst, weil wir meinen, daß 'rechts‘ immer konservativ bedeuten muß und 'links‘ immer radikal.“ Maljutin persönlich, immerhin, hat noch relativ präzise Vorstellungen von den Seitenbegriffen: „Jeder, der für den Sturz eines totalitären Systems eintritt, ist ein Linker, gleich welcher Begrifflichkeit er sich bedient; umgekehrt ist in meinen Augen jeder ein Rechter oder gar Ultrarechter, der unsere Gesellschaftsordnung als 'Sozialismus‘ oder auch nur als 'deformierten Sozialismus‘ bezeichnet und sie auf Kosten anderer humaner Werte zu verteidigen bereit ist.“

Wobei Maljatin sich allerdings selbst redlich bemüht, die einschlägigen Begriffe zu vermeiden: „Das hatte noch einen Sinn in Phasen, in denen ideologisierte politische Parteien sich auf bestimmte Gesellschaftsschichten stützten. In einer Zeit, in der Politik vermarktet und von verschiedenen politischen Gruppierungen je nach Preis gehandelt wird, verliert sie jeden Inhalt. Die Trennlinien verlaufen heute eher zwischen denen, die technischen und wirtschaftlichen Fortschritt um jeden Preis wollen, und jenen, die sich zur Minderung der Folgen aus diesem Prozeß bemühen.“

Tatsächlich reichert sich mittlerweile das Spektrum neuer Kennzeichnungen recht phantasievoll an - von rosa („echte Demokratisierung“) über „bordeaux“ („schwärzliches Rot“ die Verteidigung aller Ideale) bis zu „offiziellem Idiotismus“ (zwischen den Farben angesiedelt) reichen die herumfliegenden Eigen- und Fremdetikettierungen derzeit.

Die Ambivalenz ehedem so einleuchtender Ordnungen zeigt sich nicht nur in den Analysen aus dem Herrschaftszentrum in Moskau und bei Wissenschaftlern wie Maljutin - auch die Peripherie sucht nach neuen Deutungsmustern.

Jewgenikj Geolikov, Mitglied des ZK der kommunistischen Partei Estlands und stellvertretender Chefredakteur der Parteizeitschrift 'Politika‘ sieht die Entwicklung zum Beispiel so: „Bei uns hier hat der Begriff 'links‘ jetzt einen Doppelsinn bekommen. Viele verstehen unter 'Linken‘ einen 'Konservativen‘ im Sinne des Apparatschik. Interessanterweise stimmen die Ansichten der so bezeichneten Vertreter des bürokratischen Sozialismus manchmal auch mit den Meinungen derer überein, die ich 'rechte Konservative‘ nennen würde: Vertreter eines Fundamentalismus, der 'nationale Ausschließlichkeit‘ predigt und fordert, daß Angehörige einer bestimmten nationalen Gruppe auf einem bestimmten Territorium mehr Rechte haben sollen als andere. Überdies ist rechten wie linken Konservativen gemein, daß beide ihre Ideale in der Vergangenheit suchen - nur daß die einen dazu in die Zeit Stalins zurückgehen und die anderen noch weiter.“

Daneben setzen sich in Estland derzeit auch Begriffe wie „linke Demokraten“ durch, womit im wesentlichen westdeutschen Sozialdemokraten oder Grünen nahestehende Gruppen gemeint sind. „Jeder, der den Anspruch aufrechterhält, daß Menschen bewußt ihr Schicksal gestalten und nicht zum Rädchen übergeordneter Mächte werden sollte“, sagt Golikov, „darf sich auch heute noch als 'links‘ bezeichnen.“ Mit gewissen Auflagen allerdings: „jeder, der sich als 'Linker‘ sieht, sollte auch bereit sein, Verantwortung für die eigene Umwelt, ja das gesamte Planetensystem zu übernehmen.“

Doch schon wieder spielt die neue Begriffsverwirrung herein - kaum eine Gruppierung wagt sich heute noch als „links“ zu bezeichnen, lieber nennen sich die meisten „zentristisch“ und mitunter kennzeichnen sich, hat Golikov bemerkt, „sogar progressive Demokraten selbst als 'rechtsstehend‘ - in Umkehrung des Verhaltens des totalitären Parteiapparats von einst, der alles als 'rechts‘ denunziert hatte, was mit ihm selbst unvereinbar war.“

Für die meisten Menschen freilich hat die Umwertung der alten Begriffe auch etwas Unheimliches: „Die meisten Begriffe“, sagt Golikov, „sind heute noch mit Angst und Unruhe besetzt - und zwar bedeutend mehr, als eigentlich vonnöten wäre.“

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