: Abkopplung oder Zwangsintegration: Die falsche Debatte
Heute beginnt die Frühjahrstagung von Internationalem Währungsfonds und Weltbank in Washington / Erklärtes Ziel ist unter anderem: Bessere Integration der Schuldnerländer in den Welthandel - Hauptansatzpunkt der Kritiker / Was ist falsch an dieser Auseinandersetzung der letzten Jahre? ■ Von L. Marmora / D. Messner
Heute beginnt in Washington die Frühjahrstagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank mit der Sitzung des Interim-Ausschusses. Erklärtes Ziel beider Organisationen ist die Integration der Dritte-Welt-Länder in die Weltwirtschaft. Viele Kritiker nennen das „Zwangsintegration“ und befürworten stattdessen einen eigenständigen Weg der Staaten. Wir veröffentlichen auszugsweise ein Papier zweier Berliner Wissenschaftler. Die These: Die Debatte führt an der Realität vorbei, alle Beteiligten haben unrecht.
IWF- und Weltbankfunktionäre gehen davon aus, daß ihre seit Anfang der 80er Jahre den Entwicklungsländern verordneten Anpassungsstrategien zu deren Integration in den Weltmarkt führen. Viele Kritiker der beiden Finanzinstitutionen teilen deren Position, daß die den Entwicklungsländern aufoktroyierten liberalen Roßkuren zur stärkeren Eingliederung in die Weltwirtschaft beitragen. Entsprechend richtete sich während der Anti-IWF und -Weltbankkampagne 1988 die Kritik gegen die vermeintliche „Zwangsintegration“ der Dritten Welt in die Weltwirtschaft.
Nach zehn Jahren orthodoxer Anpassungspolitik kann heute jedoch festgestellt werden, daß der Anspruch von IWF und Weltbank, die Weltmarktintegration der Entwicklungsländer zu fördern, nicht realisiert wurde. Vielmehr erleben wir eine zunehmende Abdrängung der Entwicklungsländer aus dem Weltmarkt.
Der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel sank zwischen 1980 und 1987 von 25,8 Prozent auf 19,5 Prozent. Die Zuflüsse von Direktinvestitionen in die Dritte Welt verringern sich drastisch. 1982 erhielten die Dritte-Welt -Länder 30,2 Prozent aller weltweiten Direktinvestitionen, 1985 waren es nur noch 23,3 Prozent. Der Rückgang der bundesdeutschen Direktinvestitionen in die Dritte Welt ist besonders kraß. 1970 flossen 23,7 Prozent aller Auslandsinvestitionen in die Peripherie, 1987 10,4 Prozent und 1988 nur noch 2,8 Prozent.
Der IWF erklärt diese Entwicklung mit dem Verweis darauf, daß seine Anpassungspolitiken nicht konsequent genug durchgeführt worden seien. Interessant ist jedoch, daß die wenigen erfolgreichen Entwicklungsländer solche sind, die gerade nicht den IWF-Rezepten gefolgt waren. Einige ost- und südostasiatischen Länder, speziell Taiwan und Südkorea, praktizierten keineswegs den neoliberalen IWF-Kurs. Genauere Untersuchungen zeigen die entscheidende Rolle des Staates, bis hin zur Verstaatlichung des Bankensystems, im Prozeß nachholender Entwicklung in diesen Ökonomien.
Vom Traum zum Alptraum?
Die IWF-Politiken sind primär auf die Sicherung der Schuldendienstzahlungen ausgerichtet. Daher müssen schnell Handelsbilanzüberschüsse angestrebt werden. Brasilien beispielsweise realisierte in den letzten Jahren beachtliche Handelsbilanzüberschüsse von jeweils über zehn Milliarden US -Dollar und mußte diese vollständig zu den internationalen Banken transferieren. Modernisierungen blieben infolge dieser Deinvestitionsstrategie aus, der Abstand zu den Produktivitätsniveaus in der Weltwirtschaft wird immer größer, der tendenzielle Abkopplungseffekt wird verstärkt. Ein sukzessives Hineinwachsen in den Weltmarkt wird so verunmöglicht, die Ländern bleiben auf ihre traditionellen Agrar- und Rohstoffexporte bei fallenden Preisen angewiesen. Damit wird die traditionelle Weltarbeitsteilung verfestigt.
Es ist daher irreführend, wenn die IWF-Vertreter von einer Weltmarktintegration als „Entwicklungsziel“ und ein großer Teil ihrer Kritiker von eienr „Zwangsintegration“ der Entwicklungsländer als Folge der orthodoxen IWF -Anpassungsprogramme reden. Vielmehr führen diese bisher zur Fortschreibung des Trends der tendenziellen „Zwangsabkoppelung“ von zwei Dritteln der Welt aus der Weltwirtschaft und Gesellschaft. Lange Zeit galt die Abkopplung der Entwicklungsländer aus der Weltwirtschaft in der kritischen Entwicklungstheorie als positive Utopie. Könnte die nun festgestellte „Zwangsabkoppelung“ nicht als Chance aufgefaßt und genutzt werden, um Exportzwänge und Abhängigkeiten von den Industrienationen abzubauen, einen höheren Grad an Selbstversorgung der eigenen Bevölkerung zu erreichen, um regionale Integrationsprozesse in Gang zu setzen und endlich ein eigenes binnenmarktorientiertes Entwicklungsmodell durchzusetzen? Sollte gerade der IWF günstige Bedingungen für eine „autozentrierte Entwicklung“ geschaffen haben?
Tatsächlich jedoch ist in Lateinamerika der Traum, eine nationale Industriestruktur aufzubauen, diese auf den Binnenmarkt zu konzentrieren und so die Abhängigkeit vom Weltmarkt sukzessive zu verringern, gescheitert.
Erst einmal wurde das Devisenproblem, das entsprechend des ursprünglichen Konzeptes durch die Substitution der Importe nach und nach überwunden werden sollte, immer unlösbarer. Da Exporte von Industriegütern nicht vorgesehen waren (binnenmarktorientierte Industrialisierung) waren die Ökonomien wieter auf (steigende) Ausfuhren von Agrargütern und Rohstoffen angewiesen, um die notwendigen Vorprodukte zum Aufbau und zur Instandhaltung der nationalen Industrien zu finanzieren. Die binnenmarktorientierte Industrialisierung führte paradoxerweise aufgrund der ungenügenden Binnennachfrage in allen lateinamerikanischen Staaten zu einer Stagnation des Volkseinkommens und damit des Binnenmarktes, der eigentlich entwickelt und ausgebaut werden sollte. Die Strategie entpuppte sich als ineffizient, unsozial und unökologisch.
Regionalisierung als Ausweg?
Ineffizient, weil sich hinter den hohen Zollmauern Oligopolen herausbildeten, die mit veralteten Maschinen weder von Konkurrenten auf dem Binnenmarkt noch durch Weltmarktkonkurrenz unter Innovationsdruck gesetzt wurden. Die sozialen Kosten dieses Modells wurden immer unübersehbarer: Die Konsumentenpreise blieben trotz niedriger Löhne hoch. Das Preisniveau lag häufig 400 Prozent über den Weltmarktpreisen. Gerade viele Multinationale Konzerne dominierten die Konsumgüterbranchen (Automobilindustrie u.a.) und schöpften auf den hochprotektionierten Märkten Extraprofite ab. Unökologisch war diese Entwicklung, weil auf den vermachteten Märkten nur langsam technologische Neuerungen implementiert wurden. Die veralteten Anlagen waren und sind ressourcen- und energieintensiv.
Das Fazit fällt ernüchternd aus: Die nahezu ausschließliche Orientierung der nationalen Industrien auf die Binnenmärkte hat keinesfalls die Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert bzw. die nationalen Autonomiespielräume erhöht. Im Gegenteil: Die Kehrseite dieser Strategie ist eine „passive Integration“ in die Weltwirtschaft und eine ökonomische Dauerstagnation.
Es geht also gar nicht um den lange gepflegten Konflikt Weltmarktintegration versus Abkopplung, sondern um „passive Integration“, die zu tendenzieller Zwangsabkopplung der Dritten Welt aus der Weltgesellschaft führt, versus Formen „aktiver Integration“, um die nationalen Handlungsspielräume zu erweitern und die Stagnation und Verarmung ganzer Länder zu überwinden.
Seit Beginn der Verschuldungskrise richtete sich die Hoffnung vieler auf die Region als Ausweg aus der Krise. Doch die reale Entwicklung gibt kaum Anlaß zu Optimismus. Der Welthandel wuchs seit 1983 um jährlich sieben Prozent, der Handel etwa zwischen den lateinamerikanischen Ländern sank demgegenüber zwischen 1981 und 1987 von 11,3 Milliarden Dollar auf 7,6 Milliarden Dollar. Der Regionalmarkt allein kann daher keine Alternative zur gescheiterten Beschränkung auf den Binnenmarkt darstellen. Es gilt Binnen-, Regional und Weltmarktpotentiale zugleich zu nutzen. Dabei spielt der Regionalmarkt als Absicherung einer „selektiven Weltmarktintegration“ eine wichtige Rolle.
L. Marmora und D. Messner haben in etwas abgewandelter Form zu diesem Thema kürzlich im Wuppertaler „Institut für Internationale Politik“ ein 50seitiges Papier veröffentlicht: „Alte Entwicklungstheorien - neue Internationalismusbegriffe“.
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