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Die Nation und das Kopftuch

Die Kopfbedeckung dreier Schülerinnen genügte, um in Frankreich eine Debatte zu entfachen, die neue politische Fronten eröffnete / „Toleranz“ und „Konfessionslosigkeit“ sind keine tragenden Werte mehr  ■  Aus Paris Alexander Smoltczyk

Ein Montagmorgen, Anfang November. Ungarn ist zur Republik erklärt, Mandela steht vor der Freilassung, die Mauer wankt unter dem Ansturm der Ausreisewilligen - die ganze Welt schaut nach Osten. Die ganze Welt? Auch Frankreichs Radio und Fernsehreporter sind früh aufgestanden, aber sie postieren sich vorm Schultor des Colleges „Gabriel Havez“ in Creil, einer Schlafstadt nördlich von Paris. Um acht Uhr geht die heißerwartete Meldung live über alle Sender: „Fatima hat ihr Kopftuch auf!“

Die Kopfbedeckung der beiden Schwestern Fatima und Leila Achaboun und ihrer Freundin Samira war drei Monate lang Tagesgespräch einer Nation, führte zur Aufkündigung von Freundschaften, zu Demonstrationen, einer königlichen Intervention und hitzigen Parlamentssitzungen. Dabei polarisierte sich die Diskussion in ungewohnter Weise: die Frontlinien verliefen quer durch die politischen Lager vielleicht ein Hinweis darauf, wie künftige Konflikte ausgetragen werden könnten.

Rückblende. Seit einigen Jahren erscheinen die Schüler aus dem jüdischen Kinderheim von Creil samstags, also am Sabbat, nicht zum Unterricht. Im Juni 1989, kurz vor den Sommerferien, entscheiden Direktor und Schulrat, daß in Zukunft religiöse Vorschriften nicht mehr als Grund gelten sollen, dem Unterricht fernzubleiben. Das Prinzip der Konfessionslosigkeit der öffentlichen Schulen (Laizität) müsse gewahrt bleiben. Schulleiter Ernest Cheniere, der aus Martinique stammt und bei „amnesty international“ mitarbeitet: „Laizität heißt Respekt und Neutralität. Ohne diesen Grundsatz könnten wir die Kinder, die sehr verschieden sind, nicht gemeinsam unterrichten.“ Im College „Gabriel Havez“ sind 25 Nationalitäten vertreten.

Das Dekret der Schulleitung findet auch Anwendung im Fall dreier Schülerinnen (von 500 Schülern muslimischen Glaubens), die seit drei Jahren das islamische Kopftuch, den „Hidjab“, tragen. Die Schülerinnen protestieren: der Koran verbiete es ihnen, in der Öffentlichkeit ihre Haare zu zeigen; Cheniere schickt sie nach Hause. Sofort wird die Maßnahme von den Antirassismus-Organisationen „SOS-Racisme“ und MRAP an die Öffentlichkeit gebracht. Jacques Verges, der bekannte Strafverteidiger, der schon algerische Befreiungskämpfer und Lyons Gestapo-Chef Klaus Barbie vertreten hat, bietet seine Hilfe an. Er spricht vom „Rassismus“ des Schulleiters. Die Kopftuch-Affäre hat begonnen.

Aus einer disziplinarrechtlichen Kontroverse wird in kürzester Zeit eine Debatte, an der sich die gesamte Nation beteiligt. Überraschend? Nicht unbedingt. Denn „Ecole“ ist in Frankreich stets mehr als nur ein Wort gewesen.

Die Schule der Nation

Schon die Einführung der Schulpflicht und des laizistischen Unterrichts durch Jules Ferry 1882 war untrennbar mit der Errichtung der (dritten) Republik verbunden. Eine von Monarchien umkreiste Republik, die sich auf die Prinzipien „Raison-Science-Progres“ (Vernunft, Wissenschaft, Fortschritt) gründen wollte, konnte es sich nicht leisten, die jungen Citoyens von Klerikern erziehen zu lassen, die in den Menschenrechten und der Republik immer noch eine Gotteslästerung sahen. Freie Erziehung wurde republikanische Pflicht, die durch Revolution und Commune immer wieder gespaltene Nation sollte nun in den Klassenzimmern geschmiedet werden. Daß es mit dem universellen Anspruch der Vernunft nicht ganz so einfach war, merkten die von Ferry ausgesandten Lehrer recht schnell, als sie in der Bretagne vor Klassen standen, die nicht Französisch sprachen und sich auch nicht im geringsten als Franzosen fühlten. Die Lehrer wurden zur Speerspitze der Republik und hatten den Jungbürgern ihr „Patois“, ihr Okzitanisch und Bretonisch, auszutreiben. Von den Kolonien im Südpazifik und anderswo ganz zu schweigen. Die „Ecole republicaine“, mit ihren im ganzen Empire identischen Schuluniformen und -büchern, wurde zum wichtigsten Werkzeug des Universalismus der Vernunft. Aber auch nachdem die Kruzifixe im Klassenzimmer abgehängt waren - die christlichen Feiertage wurden eingehalten: schon am Anfang ein kleiner Abschied vom Prinzipiellen.

Der Schulkampf der Schwarzröcke

Die Schwierigkeiten einer Reform des „Enseignement National“ sollten sich 1984 zeigen. Nachdem die Sozialisten, deren Mitglieder sich zum großen Teil aus Lehrern rekrutieren, an die Macht gekommen waren, genügte ein schüchterner Versuch, die kirchlichen Schulen einer gewissen staatlichen Kontrolle zu unterwerfen, um die größten Demonstrationen seit dem Mai 1968 auszulösen. An ihrer Spitze: die Schwarzröcke.

Der Regierung wurde vorgeworfen, das Prinzip der Freiheit des Unterrichts zu verletzten. Sie mußte einsehen, daß eine neue Situation eingetreten war. Der Mai 68 hatte das Prinzip der republikanischen Integration durch jenes der Differenz, des Nebeneinander abgelöst. Die kirchliche Erziehung war kein Atavismus mehr, kein Versuch, im Kampf gegen die Republik ein Meinungsmonopol anzustreben, sondern ein Ausdruck der existierenden Pluralität. Ein Angriff auf die Kirchenschulen wurde von der Öffentlichkeit als Intoleranz verstanden - und die hat in Frankreich eine denkbar schlechte Presse. Das Kabinett trat zurück.

Jacques Le Goff, Historiker und Schulreformer, verteidigt im Zusammenhang mit der „Schleieraffäre“ den damaligen Rückzug der Sozialisten: „Auf eine kämpferische Laizität zu verzichten, weil der Gegner ein Partner geworden ist, mit dem Kompromisse nicht nur möglich sondern auch wünschenswert sind, ist keine Selbstaufgabe, sondern eine Wende.“

Die Mullahs auf dem Vormarsch?

Nach dieser Niederlage mußten die drei Kopftücher in Creil auf viele aufrechte Laizisten wie drei rote Tücher wirken: Doch in der ersten Phase der Debatte wurde das Prinzip der Toleranz betont. Der Erziehungsminister und ehemalige Parteichef der Sozialisten, Lionel Jospin, versuchte, die Parteilinie festzulegen: „Es geht darum, die Laizität in der Schule zu respektieren und die Zeichen seiner Religionszugehörigkeit nicht demonstrativ hervorzukehren“, erklärte er. Aber auch: „Die Schule ist dazu da, Kinder aufzunehmen, und nicht, sie auszuschließen.“ Harlem Desir, der Präsident von „SOS-Racisme“ bezog die gleiche Position: „Eigentlich geht es nicht um die Frage, ob man für oder gegen das Kopftuch in der öffentlichen Schule ist, sondern darum, in welche Schule diese Kinder gehen sollen und wie sie integriert werden können.“ Konkret: Wenn das Tuch verboten würde, würden die Mädchen in die Koranschulen gezwungen - ein Schritt weiter ins Ghetto, ganz im Sinne der fundamentalistischen Mullahs und der Rassisten der Front National.

Doch die traditionelle Lagerbildung von Rechts und Links wollte diesmal nicht funktionieren. Sozialisten, Liberale, Bürgerliche und selbst die Anti-Rassismus-Organisationen und die Rechtsradikalen spalteten sich innerhalb weniger Tage in Pro- und Anti-Kopftüchler. Während sich etwa Daniele Mitterrand in einem vielbeachteten Interview hinter Jospin stellte („Wir müssen die religiösen Traditionen achten“), verfaßte ihr Hausphilosoph Regis Debray ein flammendes Manifest gegen den Verräter Jospin, gemeinsam mit dem (bisher von Debray stets verachteten) Essayisten Finkielkraut und der Soziologin Elisabeth Badinter: „Soll das Jahr des Bicentenaire zum München (Anspielung auf das Münchener Abkommen 1938, Anm.d.Red) der republikanischen Schule werden? So wie Sie (Jospin) verhandeln und gleichzeitig Ihr Nachgeben ankündigen, so etwas nennt man Kapitulation.“ Peinlicherweise fanden sich in Debrays Lager auch unwillkommene Gäste: zum Beispiel Jean-Marie Le Pen. Gerade er, der 1984 gegen die Laizisten gewettert hatte, verlangte nun hartes Vorgehen im Namen des Laizismus gegen die Moslems.

Sofort veröffentlichte die nicht-jakobinische Linke um Alain Touraine ein Gegenmanifest: „Soll der laizistische Universalismus als Vorwand für den Ausschluß dienen? Wer vom München der republikanischen Schule redet, muß aufpassen, daß er nicht ein Vichy der Einwandererintegration bewirkt (Anspielung auf die französische Kollaboration mit Hitler 1940 bis 44, Anm. d.Red).“ Interessanterweise teilt eine deutliche Mehrheit der Jugendlichen die Toleranz Jospins: Sie haben sich an die Kopftücher gewöhnt und sehen in ihnen oft nur eine Form der Selbstfindung per Outfit, ähnlich wie Bomber- oder Collegejacken. Die Mehrheit der Erwachsenen dagegen war für ein Verbot.

Die Leidenschaft, mit der über zwei Monate debattiert wurde, erklärt sich daraus, daß es diesmal nicht um die Integration von jungen Bretonen oder Italienern ging, sondern um islamische Schülerinnen. Es waren nicht nur viele Frauen, die in den angeblich vom Koran vorgeschriebenen Kopftüchern vor allem ein Zeichen der Unterdrückung der Frau sahen. Sechs Monate nach der Rushdie-Affäre galt der Islam ohnehin als Inbegriff der Intoleranz und als prinzipiell nicht integrierbar (nach einer Umfrage des 'Nouvel Observateur‘ halten 51 Prozent der Franzosen die Immigranten wegen ihres Andersseins für nicht integrierbar). Obwohl er mittlerweile die zweitgrößte Religion in Frankreich darstellt, ist der Islam keineswegs akzeptiert. Jeder Versuch, eine Moschee zu errichten, stößt - wie etwa in Lyon oder Marseille - auf entschiedenen Protest, und das, obwohl die Zahl der praktizierenden Moslems unter den Immigranten auf fünf bis zwölf Prozent geschätzt wird, die der Fundamentalisten sogar nur auf einige tausend. Diese allerdings sind sehr stimmgewaltig und haben auf die drei Mädchen von Creil starken Druck ausgeübt. Weil es bisher keine gemeinsame Vertretung der französischen Moslems gibt (Innenminister Pierre Joxe arbeitet zur Zeit an der Schaffung eines islamischen Konsistoriums), ist es leicht, die diversen Fundamentalistengruppen mit „dem Islam“ gleichzusetzen.

Zwiespältig reagierten auch die anderen Religionen. Der Erzbischof von Lyon und der Großrabbiner von Paris betonten in ihren Stellungnahmen die Pflicht, Überzeugungen des anderen nicht zu verletzen. Mit diesem Kulturrelativismus, der die Religion dem Zugriff der Vernunft und der Polemik entziehen wil, war schon von kirchlicher Seite gegen Rushdie argumentiert worden. Die „Heilige Allianz der Kleriker“ (Finkielkraut) mißbrauchte das Prinzip der Toleranz, um die Diskussion abzuwürgen, in der sich die Toleranz hätte erweisen müssen, und versuchte das Verschiedensein, die „Differenz“ für unabänderlich zu erklären. Aufgeklärte Moslems sind nicht der Ansicht, daß der universelle Anspruch der Vernunft einem multikulturellen Nebeneinander entgegensteht.

Der Religionswissenschaftler Daryush Shayegan schrieb in der Theoriezeitschrift 'Le Debat‘: „Wir stehen vor einem sonderbaren Paradox: Um die Spiritualität zu retten, muß die Religion privatisiert, die Gesellschaft säkularisiert werden. Der öffentliche Raum muß der Einwirkung der Glaubens -Bilder entzogen werden, denn die können dem Menschen in dem zersplitterten Umfeld, in das die offene Ökologie der Welt ihn stellt, nur schaden. Ergo: Kein Kopftuch an den Schulen.“

Multikulturelle Gesellschaft?

Frankreichs Streit ums schwarze Kopftuch wurde vorläufig beendet, nachdem Marokkos König Hassan II persönlich an seine drei Untertaninnen in Creil appelliert hatte, barhäuptig in Frankreichs Schulen zu treten. Das von Jospin angerufene Verfassungsgericht entschied, daß es mit dem Prinzip der Laizität zu vereinbaren sei, „religiöse Überzeugungen in der Schule auszudrücken und zu zeigen“, sofern der Unterricht und die Freiheit der anderen dadurch beeinträchtigt werde.

Was ist damit entschieden? Gar nichts. Denn wenn drei Kopftücher eine derartige Debatte auslösen können, wird es nicht lange dauern, bis sie erneut aufbricht, sobald eine Moschee gebaut werden soll. Und das ist gut so. Wenn die universellen Werte, mit denen sich Frankreichs Nationalstaat identifizierte, wenn „Laizität“, „Toleranz“, „Menschenrechte“ offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, Konflikte zu entscheiden, ohne daß neue Gräben aufgerissen werden, dann muß sich Frankreich nach neuen Prinzipien umsehen oder lernen, sich ohne solche Prinzipien im schwierigen multikulturellen Terrain zurechtzufinden. Vielleicht genügt es, damit auf den Trümmern des Universalismus nicht das Unkraut der Indifferenz wuchert wie meinte Voltaire? -, „de cultiver son jardin“, seinen Garten zu bestellen. Die Kopftuch-Debatte war ein erster Schritt.

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