„Wir mußten so grausam sein“

■ Die sowjetische Dokumentaristin Marina Goldovskaja dreht zur Zeit einen Film über den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht von Frauen und Kindern

Unerhörte Begebenheit - so definierte Goethe die Novelle. Vielleicht nennt die sowjetische Dokumentaristin Marina Goldovskaja ihre jüngste Produktion eine filmische Novelle, weil sie unerhörte Begebenheiten erzählt. Das tut sie nicht zum ersten Mal. Ihr 1988 entstandener Dokumentarfilm Die Macht von Solovki wurde zum internationalen Erfolg, weil sie gewagt hatte, die Tragödie der sowjetischen Lager zu dokumentieren. Anhand von historischem Filmmaterial, Briefen der Gefangenen und Interviews mit ehemaligen Häftlingen erzählte sie die Geschichte des ersten Gulags, der von 1923 bis 1929 auf der ehemaligen Klosterinsel Solovki im polaren Weißmeer bestand. Bereits Iwan der Schreckliche hatte das alte Kloster in ein Gefängnis umgewandelt, in das er alle Ketzer verbannte. Die Bolschewisten folgten dieser Tradition und ließen ihre Feinde, darunter Altbolschewisten, Trotzkisten, vor allem aber willkürlich Verhaftete aus allen Bevölkerungsschichten, dorthin deportieren. Nur ein kleiner Teil der Häftlinge kehrte von Solovki zurück. Hunderttausende fielen vor allem unter Stalins Herrschaft der brutalen Willkür zum Opfer.

Auch in ihrem neuen Film verarbeitet Marina Goldovskaja geschichtliche Ereignisse, die bislang in der Sowjetunion tabu waren. Und wieder ist es eine Abrechnung mit dem Stalinismus.

Unter dem Arbeitstitel Tod im jungen Weizenfeld entsteht eine Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs, aber aus einer ungewöhnlichen Perspektive. In der Sowjetunion wurden haufenweise Filme über den Zweiten Weltkrieg gedreht. Patriotische Filme über den glorreichen Sieg der Roten Armee, über die tapferen Helden. In Goldovskajas Novelle sind die Protagonisten jedoch Frauen und die, die damals Kinder waren. Sie stellt dabei Fragen, die bis vor zwei oder drei Jahren in der Sowjetunion undenkbar waren: Warum konnten sogar Frauen und Kinder töten? Wie konnten die Menschen auf beiden Seiten zu Denunzianten und Verrätern werden? Was geschah mit den Menschen während der Blockade Leningrads? 900 Tage Hunger, fast zwei Millionen starben. Krankheit, Hunger, Zusammenbruch - wie haben die Menschen in dieser Stadt reagiert? Und wie war es möglich, daß die Sowjetunion diesen Krieg gewann?

Fast alle, Bauern, Arbeiter, Intellektuelle, litten unter dem Stalinregime. In jeder Familie gab es jemanden, der umgebracht wurde, im Arbeitslager starb oder bei der Landkollektivierung vertrieben wurde. Und ausgerechnet diese Leute zogen für Stalin in den Krieg und starben mit seinem Namen auf den Lippen. Wie war das möglich? Gleichzeitig gab es jedoch noch eine andere Dimension, die gegenseitige Hilfe und Barmherzigkeit. Wie haben sie es geschafft, sich diese Gefühle in den unmenschlichen Zeiten zu erhalten? All diese Fragen läßt die Autorin sowohl von sowjetischen als auch von deutschen Zeitzeugen beantworten. Ihre Protagonisten sind heute zwischen 60 und 90 Jahre alt und erzählen ihre Erlebnisse und Gefühle unter drei verschiedenen Gesichtspunkten:

1. Der Haß

Thema des ersten Teiles der Trilogie ist die Macht der totalitären Regime Hitlers und Stalins über die Menschen, über die Manipulation des Geistes und den Mißbrauch der Gefühle. Den Rahmen bilden die Erzählungen einer Partisanin, die drei Jahre in den Wäldern lebte. Sie berichtet, wie sie ihren eigenen Schulkameraden umbrachte, der gerade Wache hielt. Er war eingeschlafen, und sie brachte ihn um, ohne mit der Wimper zu zucken. „Krieg ist nicht Theater“, sagt sie, „wir mußten so grausam sein.“ Viele Frauen wurden zum Kriegsdienst zwangsverpflichtet, weil sie sehr gute Schützinnen waren. Fast alle wurden krank, weil sie die psychische Belastung nicht ertragen konnten. Die meisten von ihnen konnten keine Kinder mehr bekommen. Die Kinder, die doch noch geboren wurden, waren fast alle geistig behindert.

2. Der Hunger

Es gibt kaum Überlebende aus der Zeit der Belagerung Leningrads. Nur etwa 1.000 Menschen überlebten die Blockade. Deshalb arbeitet Marina Goldovskaja hier hauptsächlich mit alten Familienfotos. Eine Überlebende hat sie gefunden. Sie ist 94 und noch immer Sängerin. Während der Hungersnot sang sie Lieder aus der Oper Carmen. Und einer nach dem anderen starb vor Hunger. Sie erzählt Beispiele von Kannibalismus, vom Verrücktwerden und dem Verlust der Kontrolle.

3. Die Liebe

Im letzten Teil der Novelle erzählen Betroffene von beiden Seiten, was den Menschen half zu überleben. Zum Beispiel die Geschichte eines Koreaners. Er wurde 1937 auf der Insel Sachalin geboren. Es gibt vielleicht noch zehn Koreaner aus diesem Jahrgang, die überlebten. Alle anderen wurden in die Steppe von Kasachstan vertrieben, die meisten Kinder verhungerten 1937. Aber diese Familie überlebte in der Steppe und betrieb Landwirtschaft. Ein paar Jahre später wurden die Deutschen vertrieben. Als sie durch die Steppe zogen, kamen sie an dem koreanischen Bauernhof vorbei. Sie baten die Koreaner, ihre Kinder aufzunehmen, damit sie nicht verhungerten. Es war im November. Später war die ganze Kolchose mit rothaarigen Deutschen mit Sommersprossen bevölkert, die alle Kim oder Yang hießen. Jetzt gibt es eine Menge Deutsche in der Sowjetunion mit den Namen Kim und Yang.

Marina Schmidt