: Die UdSSR braucht eine Atempause
Moskau (taz) - Die Russen sind geradezu verrückt nach Sprichwörtern. So gibt es auch eins, das das Verhältnis der Deutschen zu den Sowjets auf eine griffige Formel bringt und frei übersetzt so lautet: Was den Deutschen nützt, ist Gift für die Russen. Daran werden die Unterhändler wohl denken, die nun für Moskau in den Verhandlungen um die deutsche Einheit eine weitere Machteinbuße ohne größere Blessuren überstehen müssen. Verhandlungsziel wird sein, einen weiteren Gesichtsverlust möglichst zu vermeiden. Noch im Dezember letzten Jahres stand für Michail Gorbatschow eine Vereinigung beider deutscher Staaten nicht auf der Tagesordnung. Vier Monate später sah sich der Präsident einer Verschiebung der Blockgrenzen in sein ehemaliges Hegemonialgebiet ausgesetzt. Auch seine Militärs, die er in der Vergangenheit aus ihrer Sicht sträflich behandelt hat, treten ihm allmählich auf die Füße.
Die Sowjetunion hat sowenig wie die westlichen Alliierten das Konzept einer europäischen Nachkriegs-Friedensordnung parat. Nur braucht sie es dringender als der Westen, weil die Veränderungen allein zu ihren Lasten gehen könnten. Wie hilflos die UdSSR in dieser Situation ist, zeigen die verschiedenen, in kürzester Abfolge eingebrachten Vorschläge Außenminister Schewardnadses zur Blockzugehörigkeit. Von Neutralität über ein nicht genauer definiertes „non-aligned“ bis hin zur Anwesenheit beider Supermächte auf dem Territorium eines Gesamtdeutschland. Als Perspektive der letzten Variante schwebt dem Kreml eine europäische Friedensordnung im Rahmen der KSZE vor.
Da diese Variante aber nicht auf westliche Gegenliebe stößt, wird die sowjetische Regierung zunächst darauf beharren, daß die DDR kein Nato-Mitglied wird, um Zeit zu gewinnen. Aber auch im Kreml macht sich wohl kaum einer Illusionen, daß die Integration aufzuhalten wäre. Und am Ende könnte man sich damit begnügen, daß das Gebiet der DDR einen nichtmilitarisierten Status erhält, und hoffen, die Nato möge langfristig ihren Charakter als Militärbündnis einbüßen. In der Unterredung mit de Maiziere hat Gorbatschow seinem Gegenüber zu verstehen gegeben, daß ein Anschluß nach Artikel 23 nicht den Vorstellungen der Sowjets entspricht. Das verwundert nicht, weil damit vertragliche Vereinbarungen zwischen der SU und der DDR gefährdet wären. Bis zu einer friedensvertraglichen Regelung beharrt die UdSSR - zur Zeit noch - auf ihren unkündbaren Rechten für Deutschland als Ganzes.
Eine vom Westen allein getroffene Entscheidung wird sie daher kaum anerkennen, wie Gorbatschow de Maiziere unmißverständlich zu verstehen gab. Als Übergangslösung könnte sie sich aber mit staatsvertraglichen Regelungen zwischen beiden deutschen Staaten abfinden, die ihre Interessen berücksichtigen. Valentin Falin, Berater Gorbatschows, signalisierte in einem Gespräch mit Egon Bahr kürzlich Diskussionsbereitschaft. Dieser hatte erklärt, mit dem Ende der Nachkriegszeit müßten auch die alliierten Sonderrechte erlöschen. Falin dazu: „Ein interessantes Argument.“ In Verbindung mit Artikel 23 tauchen auf sowjetischer Seite immer wieder die Bedenken auf, die UdSSR könnte durch eine Vereinigung wirtschaftlichen Schaden nehmen. Schon jetzt sollen sich Arbeitsgruppen mit der Frage befassen, wie die SU auf eine deutsche Wirtschaftsunion auf DM-Basis reagieren soll. Wladimir Gutnik vom Institut für Internationale Beziehungen und Weltwirtschaft in Moskau hält die vorgebrachten Bedenken für unbegründet. Die gebe es vor allem „bei unserer Planungsbehörde, der Gosplan, die nach ihren starren Plänen arbeitet“. Das sei für die Bürokratie natürlich, „andererseits hoffen unsere Betriebe jetzt, profitablere Kontakte knüpfen zu können“.
Auch die Lieferverpflichtungen müßten nicht bis aufs letzte eingehalten werden, denn „nicht alle Vereinbarungen waren effektiv“. Auch wenn die UdSSR aus dem zukünftigen Handel nicht gleichviel DM wie DDR-Mark erhielte, sei dies immer noch günstiger für die sowjetische Wirtschaft.
Klaus-Helge Donath
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