Angebot an Moskau

Die Souveränitätserklärung Lettlands läßt den Verhandlungsweg offen  ■ K O M M E N T A R E

Wenn Gorbatschow wirklich glaubte, mit seinen harschen Tönen und dem Wirtschaftsboykott gegenüber Litauen den Unabhängigkeitskurs der drei baltischen Länder umkehren zu können, dann muß er sich nach der Erklärung des lettischen Parlaments getäuscht sehen. Denn was die lettischen Parlamentarier nach Debatten, die sich über Tage hinzogen, zu Papier brachten, ist in der Form zwar konziliant, bleibt in der Sache aber hart. Zwar wird einerseits den Bedürfnissen der sowjetischen Führung nach Verhandlungen Rechnung getragen und sogar auf einen konkreten Zeitplan für die Wiederherstellung der vollen Souveränität verzichtet; andererseits wird jedoch klar an der Position festgehalten, die nach dem Ersten Weltkrieg unabhängig gewordene Republik Lettland sei de jure noch existent. Wie den Litauern und Esten geht es der lettischen nationaldemokratischen Bewegung nicht um den „Austritt“ aus der Sowjetunion, sondern darum, die völkerrechtswidrige Annexion ihres Landes rückgängig zu machen.

Ein Zurück hinter diesen Standpunkt ist in keinem der baltischen Staaten mehr denkbar. Drohungen ziehen nicht mehr. Immerhin hat die Moskauer Führung in Lettland ebenso wie in Litauen und Estland versucht, die russischen Einwanderungsbevölkerungen gegen die Nationalbewegungen zu mobilisieren und bestimmte politische Verhältnisse zu „provozieren“, um sich die Möglichkeiten eines Eingreifens offenzuhalten. Gerade in Lettland mit seiner großen Einwanderungskolonie, die fast die Hälfte der Bevölkerung ausmacht, ist die Zweidrittelmehrheit für die nationaldemokratische Bewegung ein Erfolg. Anders als in Litauen ist es der lettischen Volksfront nämlich gelungen, einen großen Teil der (ukrainischen, weißrussischen und auch russischen) Einwanderer für einen von der Sowjetunion unabhängigen Staat zu gewinnen - wahrscheinlich nicht zuletzt durch die in der Unabhängigkeitserklärung gegebene Garantie für die Bürgerrechte auch jener Einwanderer, die nicht lettische Staatsbürger werden wollen.

Nimmt man noch die vor einigen Wochen in Moskau geäußerten Bedingungen für den Unabhängigkeitsprozeß der baltischen Länder zum Maßstab, müßte Gorbatschow eigentlich mit der Erklärung des lettischen Parlaments zufrieden sein. Denn wenn es der sowjetischen Führung tatsächlich nur darum ginge, in Verhandlungen Zeit zu gewinnen, um weiteren Sezessionsbestrebungen in der Moldau und in den islamischen Republiken den Riegel vorzuschieben und der konservativen Opposition in der Partei und dem Militär keine allzu großen Angriffsflächen zu bieten - so hat sie diese Möglichkeit jetzt. Die durch den moskautreuen KP-Vorsitzenden Alfred Rubiks verbreiteten Drohungen Gorbatschows gegen die lettische Unabhängigkeitserklärung könnten jedenfalls mehr den Wünschen Rubiks als denen der sowjetischen Führung entsprechen. Denn die lettische Linie könnte - und das wird man in der sowjetischen Hauptstadt über kurz oder lang einsehen müssen - auch den Ausweg für den Konflikt mit Litauen bedeuten. Würde Gorbatschow diesen Kurs honorieren, wäre ihm sogar die Unterstützung der demokratischen Kräfte in Rußland selbst gewiß.

Erich Rathfelder