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Für einen kontrollierten Übergang

W. Kudjotin, 37, Soziologe und aktiver Vater zweier Kinder, gehört zum Organisationskomitee der sozialdemokratischen Partei der russischen Föderation SDPRF  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie unterscheiden Sie sich von anderen demokratischen Parteien, zum Beispiel den Liberalen?

Kudjotin: Der Hauptunterschied besteht darin, daß wir nicht an die schöpferische und heilbringende Kraft der Marktwirtschaft glauben. Daß alles gut wird, wenn man nur den Marktmechanismen freien Lauf läßt, stimmt schon an sich nicht. Aber unter unseren Bedingungen können sich solche Illusionen geradezu katastrophal auswirken. Bei uns sind die wirtschaftlichen Strukturen schrecklich deformiert, es existiert ein grandioser Monopolismus, die Kultur und Psyche großer Bevölkerungsteile sind geradezu antimarktwirtschaftlich geprägt. Ein „Wildwuchs“ des Marktes würde hier sehr schnell zu Unruhen führen, und diese wiederum könnten unseren jungen demokratischen Ansätzen und schließlich einer Möglichkeit der Marktwirtschaft selbst den Garaus machen. Deshalb sind wir für einen kontrollierten Übergang.

taz: In Ihren programmatischen Äußerungen ist davon die Rede, daß Sie sich die Kontrolle der Marktwirtschaft durch eine antimonopolistische Gesetzgebung und starke Gewerkschaften erhoffen. In Westeuropa und den USA wird um beides schon seit mehreren Generationen gekämpft

Kudjotin: Das Problem ist wirklich ernst. Die ganze russische Geschichte der letzten 300 Jahre ist ja so etwas wie eine „hinterherjagende Entwicklung“. Wir versuchten die Entwicklung des Westens zu imitieren, waren vielleicht gerade deshalb nicht erfolgreich. Natürlich gibt es eine „internationale Erfahrung“, die wir nicht mechanisch übertragen, aber doch schöpferisch beherzigen sollten. Unsere Tragik besteht darin, daß wir gerade dafür sehr wenig Zeit haben. Denn wenn wir zu lange fackeln, könnte die Sowjetunion und mit ihr Rußland mit einem Knall aus der modernen Welt herausgeschleudert und zum „schwarzen Loch“ werden.

taz: Wie stark sind in der russischen Sozialdemokratie noch vorrevolutionäre Traditionen?

Kudjotin: Obwohl sich die meisten unserer Parteimitglieder wie in Westeuropa auch auf den kritischen Rationalismus beziehen, gibt es auch marxistische und vormarxistische Traditionen. Die lebendige Überlieferung ist hingegen sehr schwach - das unterscheidet uns z.B. von den baltischen Ländern, wo es noch Parteimitglieder gibt, die in der Vorkriegszeit Sozialdemokraten waren. Auch in Spanien sind in die Sozialistische Partei PSOE die Kinder und Enkel der Sozialdemokraten der Vor-Franco-Zeit eingetreten. Aber bei uns ist diese Überlieferung durch den GULAG abgeschnitten. Das unterscheidet unsere Lage von der in den baltischen Staaten. Es gibt aber Ausnahmen. Bei uns war gestern ein sehr altes und gebrechliches Moskauer Ehepaar zu Gast, das noch zu Beginn der zwanziger Jahre der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehört hatte und das die verschiedensten Lager und schrecklichsten Repressalien überlebt hat. Und hier sitzt doch ein alter Herr, der im Jahre 1948, auf dem Gipfel der Stalin-Herrschaft, in Woronesh eine sozialdemokratische Gruppe organisiert hatte.

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