Teuflische Wandlung des Immigranten

■ Zum Satanischen an Salman Rushdies "Versen" gehört die Geburt des bedrohlichen Neuen, die Vision einer Welt von kulturell Entwurzelten/Kummer über die verlorene Heimat mischt sich mit der ...

Rushdies Roman Die Satanischen Verse ist von vielen Kritikern als politisch umstrittenes, aber literarisch unbedeutendes Werk eingestuft worden. Vielleicht war dieses Urteil etwas unbedacht, und vielleicht haben die Imame doch in gewisser Weise recht: Das Buch könnte sich tatsächlich als eine literarisch Arbeit von revolutionärer Wirkung erweisen. Es besitzt innovative Kraft, prophetische Qualität, seine provokante Absicht ist nich nur, den Provinzialismus östlicher Gesellschaft zu denunzieren, sondern es richtet sich auch gegen die Borniertheit des Westens - und das wird gern übersehen.

Von Anfang an ist der kreative Wandel zum Besseren ein Leitthema der Satanischen Verse. „Wie kommt das Neue in die Welt?“ schreibt Rushdie. „Aus welchen Verschmelzungen, Verwandlungen, Verbindungen besteht es? Wie überlebt es, extrem und gefährlich, wie es ist?“ Rushdies Roman ist weltübergreifend - so wie die anglo-indische Identität des Autors - und er öffnet die Schleusen für Ströme von Dialogen, Berührungen, Verständigungen, aber er zeigt auch den Zusammenprall unvereinbarer kultureller Werte aus den reichen Ländern des Westens und der einst kolonisierten Welt. Doch dies gelingt in einer literarischen Form, die ganz und gar zeitgenössisch ist - Rushdies Stil eilt den sprachlichen Mitteln, die den meisten anderen Autoren zu Gebote stehen, um die moderne Welt zu beschreiben, sogar so weit voraus, daß ich ihn geradezu als „post-kontemporär“ bezeichnen möchte.

Rushdie schließt sich dem Programm der Entzauberung der Welt an, das, seit etwa zwanzig Jahren, in den besten literarischen Zeugnissen des Westens vertreten wird, aber Die Satanischen Verse sind auch ein erster Schritt in eine neue Richtung. Wie Jacques Derrida, John Ashbery und Thomas Pynchon (um nur diese drei prominenten Vertreter der „Postmoderne“ zu nennen) hat Rushdie begriffen, daß wir in einer Welt leben, die keine endgültige Wahrheit oder transzendentale Hoffnung mehr bietet.

Aber, im Unterschied zu den bekannten postmodernen Autoren, die das Geschäft der Ernüchterung betreiben, sieht Rushdie den Niedergang der „Einen Wahrheit“ als eine große Chance: als Möglichkeit, die Welt doch noch zum Besseren zu wenden. Das Ende der alten Frömmigkeiten bietet den Menschen die Gelegenheit, sich selbst zu definieren - die verschiedenen Kulturen könnten toleranter, vielfältiger, lebendiger werden. Was Rushdie gelingt - die kluge Ernüchterung und zugleich die Verkündigung diesseitiger Hoffnung - haben auch andere Autoren schon versucht, die sich um die Vermittlung zwischen den Kulturkreisen bemühten. Aber ich glaube, dieser doppelte Anspruch ist in Die Satanischen Verse erstmals eingelöst worden - und damit wird uns eine neue Form der Postmoderne angezeigt.

Ich verwende den Begriff „Postmoderne“ nur ungern, er ist schon vielfach mißbraucht worden. Aber in den letzten Jahrzehnten hat sich unsere Weltsicht so radikal gewandet, daß eine neue Definition nötig scheint - nennen wir den Zustand also einstweilen „Postmoderne“.

Marx und Freud

als Sinnersatz

Der „negative“, entzaubernde Trend in den Arbeiten der Vertreter dieser Postmoderne war darauf gerichtet, ein wichtiges Versäumnis der Moderne nachzuholen: Die Welt sollte endlich von allen Formen des Aberglaubens befreit werden. Bedeutende Denker der Moderne, wie Marx und Freud, haben uns vorgeführt, wie die abendländische Welt ohne alle religiöse Bestimmung zu begreifen sei. Nichts sollte mehr nach dem äußeren Anschein beurteilt werden - Paul Ricoeur hat das die „Hermeneutik des Zweifels“ genannt.

Aber leider wurde in diesen Formen der Entzauberung die traditionelle Glaubenshaltung bloß auf den Kopf gestellt: Früher strebten die Gläubigen nach Transzendenz, nach der Vereinigung mit Gott, mit dem Einen, mit der Wahrheit. In der Neuzeit, nach Marx und Freud, suchte man die Wahrheit in den verborgenen Bewegungsgesetzen, in den unterdrückten Wünschen - aber es gab immerhin noch eine Wahrheit, die ans Licht zu bringen war. Also gab es auch für die Autoren und die Kritiker eine Art Wahrheit: den organischen Zusammenhang, die künstlerische Autonomie, die sich in Meisterwerken wie James Joyces Ulysses oder T. S. Eliots Das wüste Land manifestierte.

Für die Vertreter der Postmoderne ist jede Form des Denkens, die auf eine „Wahrheit“ zielt, ein Relikt der religiösen Weltsicht. Sie sehen die Neuzeit als eine Periode, in der an die Stelle transzendentaler Theorien ein Denken getreten ist, das in die Tiefe geht, das nun unter der Oberfläche der Realität die letzten Wahrheiten auffinden will. Auf eine Kurzformel gebracht, könnte ihr Credo etwa lauten: „Vollständige Abkehr von jeder Form der Transzendenz“. Oder, noch knapper, gewissermaßen als Autoaufkleber: „Gott ist das Original - kaufen Sie keine Kopie!“

Wie sehen die zeitgenössischen Arbeiten dieser Richtung aus? Pynchons und Ashberys entzauberte romantische Suchfahrten nach der Wahrheit habe ich bereits erwähnt. Man könnte auch Samuel Becketts Chor von Stimmen anführen, die stets im Ersterben begriffen sind, aber doch nie verstummen

-ein dauernder Affront gegen das herkömmliche Bild des Individuums. Auch „Mr. Jones“ gehört dazu, der Song der „Talking Heads“ der Bob Dylans „Ballad of a Thin Man“, dieses Verdikt über Mr. Jones, den Businessman, noch einmal in die Mangel nimmt - solche Ironie, die Parodie einer Parodie, ist kaum noch zu entschlüsseln. Die Texte von William Burroughs, seine Cut-Up-Technik, die für die Künstler der Moderne, die sich, im Geiste Flauberts, der Suche nach „le mot juste“ verpflichtet hatten, eine ständige Beleidigung darstellte. Dann die Musik von Philip Glass, in dessen Kompositionen alle natürlichen Klänge sorgfältig vermieden werden, damit wir begreifen, daß unsere traditionelle Verknüpfung von Musik und menschlichen Leidenschaften längst ein sentimentales Relikt ist. Auch Jean-Luc Godards surreale Bilder des urbanen Ödlands gehören dazu, bittere Parodien des optimistischen Futurismus der fünziger und sechziger Jahre, jener fröhlichen Fassade der Weltausstellungen.

Dramatisierung der Suche nach Sinn in einer Welt, die alle Gewißheiten verloren hat, ist ein typischer Kunstgriff der postmodernen Autoren. In dieser Weise wird uns zum Beispiel Oedipa Maas nahegebracht, die Hauptfigur in Thomas Pynchons Roman Die Versteigerung von Nr. 49, der 1966 erschienen ist und als eine Art Klassiker unter den postmodernen Texten gelten kann. Pynchon hat in dieser Allegorie des Deutungswahns vieles vorweggnommen, was die philosophische und literaturkritische Diskussion der nächsten zwanzig Jahre bestimmte.

Schon der Name „Oedipa“ zeigt an, daß diese Figur in der Nachfolge des Oedipus steht, des ersten „Detektivs“ in der abendländischen Tradition. Bei Sophokles ist die Hauptfigur selbst der gesuchte Verbrecher - Oedipa Maas dagegen hat kaum Chancen, irgendein Rätsel zu lösen. Sie macht sich auf, die weltumspannende „Trystero-Verschwörung“ aufzudecken, aber alle Hinweise, denen sie folgt, erklären sich am Ende vielleicht bloß aus ihrem eigenen Wunsch, einen umfassenden Sinnzusammenhang zu beweisen. Weil sie die postmoderne Einsicht in die Zufälligkeit der Existenz nicht erträgt, erfindet sie ein Verschwörungssystem. Die Versteigerung von Nr. 49 ist Pynchons Versuch, den Leser selber zu Sinnsucher zu machen, der am Ende einsehen muß, daß die postmoderne Welt ihm keine erlösenden Zusammenhänge bietet.

Postmoderne - Erschöpfte Entzauberung

John Ashbery ist sicherlich der einflußreichste lebende Dichter in den Vereinigten Staaten. Daß seine Lyrik uns bewegt, mag nicht zuletzt daraus zu erklären sein, daß er oft genug in der bescheidenen, naiven Rolle des Sinnsuchers auftritt - genau wie Oedipa Maas. Dabei sind Ashberys Arbeiten durchaus nicht gefällig oder leichtverständlich. Man hat bei der Lektüre oft das Gefühl, ein flüchtiger Bekannter erzähle seine Träume in sanften Worten. Diese Lyrik kommt ohne Anspruch daher: leicht wie Rauch, melancholisch und spröde, in mildem Plauderton. Aber sie ist getragen von einer Grundvorstellung - immer wieder erscheint in diesen Gedichten als Subjekt eine Person, die erstaunt ist, verwirrt und haltlos in einer Welt von Zeichen ohne Zusammenhang. John Ashbery nimmt stets eine zögernde, vorsichtige und distanzierte Haltung ein: wenn es denn keine „Wahrheit“ gibt, dann hat man auch keine Positionen zu vertreten - es geht bloß noch darum, sich das Leben vom Leib zu halten.

Auf mich wirken die Vertreter dieser „negativen Postmoderne“ inzwischen etwas erschöpft - sie haben ihr Programm der Entzauberung brilliant über die Bühne gebracht, so perfekt, daß sie zum Maßstab der künstlerischen Gegenwartskultur geworden sind. Vielleicht ist die Zeit jetzt reif für neue Formen.

In unseren Tagen sind nicht mehr nur die Künstler selbstbewußt genug, sich mit kritischem Urteil in der postmodernen Welt widersprüchlicher Bedeutungen zurechtzufinden. Gewißheiten sind nicht mehr zu haben, aber vielleicht sind sie auch gar nicht mehr so begehrt. Die Vielfalt unserer zeitgenössischen Weltkultur mag manche begeistern - Rushdie zum Beispiel.

Warum sollten, wo andere nur den Untergang im Chaos der Bedeutungen sehen, nicht einige - Rushdie zum Beispiel sich an W.B. Yeats halten, an dessen „Bild, das auf Bild gebeugt, noch neue Bilder zeugt“.

Darauf, daß es solche Zeitgenossen gibt und daß ihre kreative Arbeit uns weiterhelfen wird, hofft jedenfalls Richard Rorty, ein Vertreter pragmatischer Philosophie in den Vereinigten Staaten. Sein jüngstes Buch, Kontingenz, Ironie und Solidarität preist die menschliche Fähigkeit, in immer neuen Metaphern zu sprechen. Rorty sieht die Dichter - und damit meint er alle, die etwas Neues von Wert erschaffen wollen - als jene Menschen, denen die überkommenen Begriffe nicht mehr taugen, um ihre Erfahrungen auszudrücken. „Ein Dichter scheitert“, schreibt er, „wenn er eine fremde Selbstbeschreibung übernimmt, wenn er ein vorliegendes Programm ausführt, wenn er bestenfalls elegante Variationen bereits geschriebener Werke verfaßt.“ Die Alternative besteht darin, die eigene Geschichte zu erzählen, die eigene Situation in neuen Worten zu beschreiben. Für Rorty besteht der höchste Zweck der Literatur - und der glaubwürdigen theoretischen Bemühungen nicht in der Kritik, sondern in der Neuschöpfung. Und ich glaube, in diesem Punkt trifft er sich mit der Absicht der Satanischen Verse. Dort heißt es: „Das eigentliche Problem der Sprache: wie sie beugen, gestalten, wie sie zu unserer Freiheit machen, wie ihre vergifteten Quellen zurückerobern, wie den Fluß der Worte, der Zeit, des Blutes lenken.“ Und, vielleicht der wichtigste Satz: „Sprache ist Mut: die Fähigkeit einen Gedanken zu fassen, ihn auszusprechen und so Wirklichkeit werden zu lassen.“

Eine Frischzellenkur

für die Alte Welt

Die postmoderne Haltung, die Rorty skizziert - eine Verbindung aus Kritik an den alten Gewißheiten und erneuernder Absicht - findet sich bislang wohl am ehesten bei Autoren, die zwischen den Kulturen leben, die ihre Erfahrungen ebenso in der reichen „Westlichen Welt“ gemacht haben wie in den ehemals kolonisierten Ländern, die sich hier wie dort nicht recht zu Hause fühlen und sich darum bemühen, einen dritten Weg zu finden.

In Die Satanischen Verse versucht Rushdie, seinen Beitrag zur Gestaltung einer Weltkultur und Weltliteratur zu leisten - der Roman ist der Ernüchterung ebenso verpflichtet wie der Erneuerung. Rushdie hat die postmoderne Einsicht in die Zufälligkeit der Tradition: wenn es die „Wahre Geschichte“, die einzig gottgefällige Version der Ereignisse nicht gibt, dann kann eben jede Überlieferung nach Belieben neuformuliert werden. In unserer Gegenwartskultur besteht kein fester Kern, nichts Wesentliches - alles ist im Fluß, jeder kann sich seinen Reim machen.

Die Metamorphosen sind Rushdies Lieblingsthema: am bekanntesten ist natürlich die Darstellung des Propheten Mohammed, dessen politische, religiöse und persönliche Entwicklung in einer so rücksichtslosen Weise neuformuliert wird, daß er zuletzt - zum Entsetzen der Gläubigen - als ein abgefeimter Opportunist erscheinen mag. Aber Rushdie führt nur vor, was im Lauf der Zeit allen alten Überlieferungen ohnehin geschehen muß: sie werden umgedeutet. Rushdie ist vermessen genug, der Geschichte die Arbeit abzunehmen - er möchte der Zeit voraus sein. (Und gerade die historische Perspektive ist natürlich allen verhaßt, die glauben, das letzte Wort zu haben, das Evangelium: „Die Geschichte ist der Blutwein, der nicht länger getrunken werden darf“, läßt Rushdie seinen Imam im Exil sagen.)

Aber viel wichtiger scheint mir der vielfache Wandel zum Besseren in Die Satanischen Verse. Die Vorstellungen von der produktiven Vereinigung der Kulturen werden durchweg lustvoll, fröhlich und witzig präsentiert. Das vielleicht schönste Beispiel ist Rushdies Vision der vorteilhaften Auswirkungen, die das tropische Klima auf die Stadt London haben könnte:

“...landesweite Einführung der Siesta, Entwicklung von lebhaften und extrovertierten Verhaltensmustern in der Bevölkerung, qualitativ bessere Popmusik, neue Vögel auf den Bäumen (Aras, Pfaue, Kakadus), neue Bäume für die Vögel (Kokospalmen, Tamarinden, Banyans mit hängenden Grannen). Ein verbessertes Straßenleben, unerhört bunte Blumen in den Farben: Magenta, Zinnoberrot, Neongrün, Klammeraffen in den Eichen. Ein neuer riesiger Markt für Klimaanlagen, Deckenventilatoren, Moskitonetze und -sprays. Eine Kokosfasergarn- und Kopraindustrie. Größere Attraktivität Londons als Konferenzzentrum und so weiter; bessere Kricketspieler; stärkere Betonung der Ballkontrolle seitens der Profifußballer, da sich das traditionelle und geistlose englische Festhalten an „Leistung und Einsatz“ wegen der Hitze überholt haben wird. Religiöser Eifer, politische Unruhe, neu erwachtes Interesse an den Intellektuellen. Keine britische Reserviertheit mehr; Wärmflaschen auf ewig verbannt, stattdessen wird in den stinkenden Nächten langsam und wohlriechend Liebe gemacht. Neue soziale Werte bilden sich heraus: Freunde fangen an, einander spontan zu besuchen, ohne sich vorher anzukündigen. Seniorenheime werden geschlossen, die Großfamilie gefördert. Schärfer gewürzte Speisen kommen auf den Tisch. In englischen Toiletten wird sowohl Wasser als auch Papier benutzt...“

Rushdie findet also, das die indische Lebensart auf England wie eine Frischzellenkur wirken könnte - aber er verschweigt nicht die Nachteile einer solchen Vereinigung: „Cholera, Typhus, Legionärskrankheit, Küchenschaben, Staub, Lärm, eine Kultur des Exzesses“. Er tut genau das, was Richard Rorty von den Dichtern erwartet: er ist innovativ, er spricht über die Situation der Einwanderer in neuen Worten, zeigt, welchen Reichtum an Möglichkeiten sie bietet. Und diese postmoderne Verheißung von kultureller Vermischung markiert eine optimistische Gegenposition zu der berühmten Kurzformel für die europäische Xenophobie, die Joseph Conrad im Herz der Finsternis seine Romanfigur Kurtz aussprechen läßt: für ihn war der Kongo „das Grauen“.

Wir können und wir

müssen andere werden

Rushdies Prosa ist schillernd, kunstvoll gefügt: in Filmmanier wechseln die Blickwinkel, nur noch schneller, es entstehen Bilder, die keine Kamera zeigen könnte. Die Perspektiven überlagern sich, ständig wechselt der Tonfall. Und zugleich ist Die Satanischen Verse ein Roman von erzählerischer Kraft, mit vielfach geschichteten, widerstreitenden Bedeutungsebenen: ein Handlungsstrang spielt im England von heute, ein anderer schildert, wie der Koran umgeschrieben wird, die Entstehung der satanischen Verse; dann gibt es die Geschichte des Mädchens Aischa, einer kindlichen Prophetin, die ein ganzes Dorf als Pilger in die Fluten des Persischen Golfs führt - und außerdem zieht sich noch ein Dutzend Nebenhandlungen durch das ganze Buch. Die Kombination von Tempo und Dichte macht den besonderen Reiz der Satanischen Verse aus, man ist gefordert, anders zu lesen, sich simultan auf komplexe Strukturen und auf eine funkelnde Oberfläche einzulassen das Buch ist ein bißchen wie Poesie und Fernsehen zugleich.

Die Absicht, möglichst viele Wirklichkeiten einzufangen zeigt sich auch in der Vielzahl von Sprachen, die augezeichnet werden: man hört das Werbewortgeklimper, man hört Rock und Rap, Busineßsprachkürzel, das Englisch der feinen Teegesellschaften, Intellektuellenchinesisch, das Stottern und Radebrechen der Einwanderer und manches andere mehr. Aber jede Sprache zählt, jede kommt irgendwann zu ihrem Recht, und keine hat das letzte Wort. Der Leser soll Platz machen für die vielfachen Wirklichkeiten in diesem Buch, soll beginnen, all die Sprachen zu verstehen, sie sprechen lernen.

Am Beginn der westlichen Literaturtradition stehen zwei große Werke, die von Exil und Rückkehr berichten: das Alte Testament und die Odyssee. Homers Bericht von den zehnjährigen Mühen des Odysseus um die Rückkehr nach Ithaca und die Geschichten von den Wanderungen der Stämme Israels bis zu ihrem Einzug in das Gelobte Land sind im literarischen Unbewußten unserer Kultur aufgehoben. Seither ist die Vertreibung stets ein wichtiges Thema der Literatur gewesen - doch zumeist galt das Exil aus ein Zustand, den man betrauern mußte und den man verlassen wollte. Auch in Rushdies Roman über die Heimatlosigkeit der Immigranten gibt es diesen Kummer, doch zugleich Zeichen von Begeisterung für das „fragmentierte, vielgesichtige, multikulturelle Ich“, dessen Entstehung er uns vorführt. Bei Rushdie sind die Immigranten pluralische Wesen und aus dieser Mehrgestaltigkeit erwachsen ihnen ungeahnte Energien und neue Ideen.

Rushdie führt uns die Wurzellosigkeit und das ungewisse Schicksal seiner Figuren als etwas vor, an dem wir, in der Herausbildung einer Weltkultur, alle teilhaben werden: in seinem Roman erscheint die Heimatlosigkeit als ein Zustand, der die ganze Menschheit erfaßt und den man letztlich akzeptieren und bejahen muß, weil er neue Metamorhposen möglich macht, weil er uns zu Wandlungen befähigt, weil wir andere werden können - und müssen.

Es geht ruppig und grausam zu in diesem Buch - doch letztlich weist Die Satanischen Verse voraus auf eine Welt neuer Möglichkeiten, neuer Vielfalt und, vielleicht, neuer Hoffnung.

Aus: 'Harper's Magazine'/ Ausgabe Dezember 1989

Mark Edmundson ist Professor für englische Literatur an der Universität von Virginia und Mitherausgeber von 'Harper's Magazine‘.

Übersetzt von Edgar Peinelt