: Rock'n'Roll-Karawane für ein Europa von unten
■ Die „United-Rocktour“ geht heute auf dem Oranienplatz zu Ende / Sechs Bands aus Polen, Litauen, der Sowjetunion und beiden Deutschländern spielen zum Nulltarif gegen Nationalismus / Der Konflikt zwischen Litauen und der UdSSR begleitete das Rock-Spektakel
Kreuzberg. Eine gigantische Sprechblase hängt über dem alten Kontinent. „Das Europäische Haus“. Jeder der sich einbildet, die Zeichen der Zeit verstanden zu haben, malt es in die Luft. Nur ein paar wenige aber versuchen wirklich, Leben in dieses Phantom zu jagen. „SHE“ aus Polen, „Slince“ aus der Noch-BRD, „New Cry“ aus der Noch-DDR, „T34“ aus der zerfallenden Sowjetunion, die „Testbildtester“ aus dem ehemaligen West-Berlin und „Faktas“ aus der freien Republik Litauen werden heute 15 Uhr auf dem Oranienplatz harten Rock'n'Roll in die europäische Luft schicken, damit das Volk, also wir, tanzen und uns erobern, was in Sonntagsreden immer nur versprochen wird. Wiedervereinigung - Ja! Aber ganz Europa auf einmal, und alle wild durcheinander!
Das Konzert heute bildet den Abschluß der 'United Rocktour‘ durch vier einzelne Wohnungen des Phantasiegebäudes. Kein großer Geldgeber, sondern Eigeninitiative und Selbstorganisation der kleinen Veranstalter in Kaunus, Moskau, Warschau, Immenhausen, Leipzig und Berlin haben die Rockkarawane möglich gemacht. Das Vorhaben, musikalisch gegen die wiedererstarkten Ressentiments zwischen Polen und Deutschen, Russen und Litauern vor Ort anzuspielen, war begleitet von aktuellen politischen Problemen.
Beim größten Mieter im „Eurohaus“, der Sowjetunion, ist gerade Stühlerücken angesagt. Litauen will ausziehen, aber der Hausmeister in Moskau blockiert den Schlüssel. Rund um die Uhr ist die Haustür geschlossen. Ausländer bekommen zum litauischen Zimmer keinen Zutritt mehr. Aber Rock'n'Roll -Musiker sind Rebellen und kreischende Gitarren übertönen alle Verbote. Mit einem Visa nur für Moskau wurde das Riesenreich betreten und anschließend mit einer gemeinsamen Schwarzfahrt nach Kaunus/Litauen ausgetrickst. Dort gab es ein Openair-Konzert vor 3.000 Menschen. Weil der harte Beat noch Mangelware ist und der Besuch eines Rockkonzertes immer auch Opposition gegen die ätzende sozialistische Langeweile ist, geht jeder hin. Alter und Outfit spielen keine Rolle. Andrzej Wieczorek, Keyborder der polnischen „SHE“, erinnert sich: „Nebenan war eine Kirche. Als die Show da zu Ende war, kamen alle zum Konzert.“ Probleme gab es nur mit dem Strom. Die unerkannt gebliebene Hand, die selbigen zeitweise sperrte, gehörte wahrscheinlich dem verlängertem Arm des Moskauer Blockwarts. Damit der litauische Möbelwagen nicht losfahren konnte, hatte der auch den Benzinhahn abgedreht. So war der Weg zum Bahnhof anstrengender als die Zugfahrt zurück nach Moskau.
Dort war eigentlich eine größere Halle gemietet. Die aber wurde gesperrt (wegen Litauen) und das Konzert verlegt. In einem Klubhaus ging die Show dann vor 400 Punks und Heavys ab. Die kannten den Duft der großen weiten Welt schon und rauchten den ganzen Abend Joints made in USSR. Vieleicht ließ die Miliz sie deshalb nicht zur anschließenden Fete ins Studentenwohnheim, bei der sich die Studenten über nicht genehmigte Pässe beklagten.
Beim nächsten Konzert in Warschau gab es solche Probleme nicht. Dort haben sie ihre Türen nach Europa schon lange ausgehangen und die ehemaligen Schließer in die Opposition oder aufs Sterbebett geschickt. Der Querschnitt der Warschauer Szene kam und feierte die internationalen Rocker.
In Immenhausen protestierte eine kleine Gruppe pubertärer „Zu-Befehl-Herr-Oberst„-Fetischisten gegen den „New Cry„ -Song Ich scheiß‘ auf meine Uniform. In Leipzig gab es bei der Party danach Probleme, die mit der Zahlung von 1.500 Alumark für Mobiliar gelöst werden mußten. Ansonsten, sagen die beiden Mitorganisatoren Ulrike Treziak vom Ballhaus Naunynstraße und der polnische Musiker Waldek Deska, war die Tour ein voller Erfolg.
Withold Keminski, polnischer Sozialstadtrat in Berlin, begreift die Tournee als Denkanstoß, daß Osteuropa nicht nur als Hinterhof des zukünftigen Gebäudes betrachtet wird. Also, Girls und Boys aus Ost und West - auf zum Euro-Pogo in SO36. Auf daß Berlin zum Gemeinschaftszimmer der ganzen Welt wird.
Torsten Preuß
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