: Carpentras liegt ganz in der Nähe
Der antisemitische Wahn ist ein Resultat der europäischen Zivilisation ■ G A S T K O M M E N T A R
Die Schändung des jüdischen Friedhofs der südfranzösichen Stadt Carpentras, eines Orts, der die älteste Synagoge beherbergt und ein Symbol der alten Tradition des Judentums in Frankreich ist, hat durch ihre besondere Abscheulichkeit über Frankreich hinaus Aufsehen erregt. Das mag dazu verleiten, das Einzigartige der antisemitischen Tat hervorzuheben und vor allem mit dem Land, in dem sie geschehen ist, in Zusammenhang zu bringen - so als sei das Schreckliche deshalb besonders schrecklich, weil es sich im Land der Menschenrechtserklärung und der frühen Judenemanzipation ereignet hat. Die Abscheulichkeit läßt sich aber nicht dadurch verarbeiten, daß man sie nationalisiert: Der antisemitische Wahn, der sich in ihr austobt, ist kein Erzeugnis Frankreichs, sondern der gesamten europäischen Zivilisation.
In einer bemerkenswerten Erklärung zu der Tat von Carpentras sprach der konservative Oppositionsführer Jaques Chirac von einer „Krise, für die wir alle verantwortlich sind“. An dieser Verantwortung haben auch die Gesellschaften außerhalb Frankreichs teil. Wenn die französische Entwicklung zu diesem Zeitpunkt besondere Aufmerksamkeit verdient, dann wegen der Anstrengung dieser Gesellschaft, aus der allgemeinen Krise unter den Bedingungen der gegenwärtigen Diskussion über Immigration und Rasismus einen Ausweg zu finden.
Der Schock von Carpentras hat sich zu einem Zeitpunkt ereignet, an dem in Frankreich das gesellschaftliche Bündnis zwischen der antirassistisch-sozialen Bewegung und den herrschenden politischen Kräften zerbrochen ist. Resultat dieses Bruches ist, daß die Regierung Rocard sich dafür entschieden hat, den Kampf gegen den Rassismus und im besonderen gegen den Einfluß der Partei Le Pens auf die Ebene der Gesetzgebung zu verlagern. Nach dem jüngst verabschiedeten Gesetz steht jetzt nicht nur das Aufstacheln zum Rassenhaß unter Strafe, sondern auch - wie in der Bundesrepublik - das Leugnen der Ermordung der Juden durch die Nazis.
Das Gesetz ist nicht nur gegen das Routinevotum der Oppositionsparteien beschlossen worden, sondern auch gegen den Rat von erfahrenen Antisemitismus-Forschern wie des Historikers Pierre Vidal-Naquet, der davor warnte, mit einem Gesetz gegen die „Auschwitz-Lüge“ die historische Wahrheit gewissermaßen verstaatlichen zu wollen. Die ersten ermutigenden Antworten der Gesellschaft in Frankreich auf die Tat von Carpentras in Form von Demonstrationen und Schweigeminuten deuten daraufhin, daß hier versucht wird, die Wahrheit wieder zu entstaatlichen und den Kampf gegen den Antisemitismus zu ihrer Sache zu machen. In einem Land, das die symbolische Einebnung der Gräber der Ermordeten im Jahr von Bitburg mit Schweigen überging, wäre man gut beraten, die begonnene Selbstbefragung der Gesellschaft des Nachbarlandes mit aufmerksamer Anteilnahme zu verfolgen und sich vielleicht an ihr ein Beispiel zu nehmen.
Lothar Baier, Frankfurt am Main
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