: Berlin - Hauptstadt der Arbeitslosen?
■ Der gewerkschaftliche Ost-West-Regionalausschuß fordert, für die Region Berlin-Brandenburg ein Struktur- und Beschäftigungsprogramm zu erstellen / Der DGB befürchtet 500.000 Arbeitslose / Der Bund muß helfen / Ein Bürgschaftsfonds in Höhe von 300 Millionen Mark soll her
Schöneberg. DemonstrantInnen vor dem DGB-Haus in der Keithstraße. Die in der Gewerkschaft HBV organisierten Beschäftigten des Berliner Großhandels verlangen von der gerade im Haus tagenden Tarifkommission die 35-Stunden -Woche, mehr Lohn und Maßnahmen gegen die Leistungsverdichtung. Wenige Räume weiter geht es nicht um die Arbeitszeit für eine Branche, sondern um die Zukunft der Arbeit überhaupt, für eine ganze Region.
Gestern stellte der DGB die Vorstellungen des gewerkschaftlichen Ost-West-Regionalausschusses über die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik für die Region Berlin/Brandenburg vor. Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft werden, betonte DGB-Chef Michael Pagels, zu einer erheblichen Arbeitslosigkeit führen. Nach Schätzungen des DIW sind 13 bis 17 Prozent aller Arbeitsplätze in der DDR gefährdet. In der Region Berlin -Brandenburg, einer traditionell strukturschwachen Gegend mit relativ wenigen industriellen Großbetrieben besteht die realistische Gefahr, daß in absehbarer Zeit rund 500.000 Menschen auf der Straße stehen. Schon jetzt ist jeder sechste Arbeitslose in der DDR ein Ostberliner. Dazu kommen noch die rund 95.000 Arbeitslosen von West-Berlin. Die Chance, eine Anstellung zu finden, verschlechtert sich in dem Maße, wie DDR-Bürger auf den Westberliner Arbeitsmarkt drängen. Den schon seit Monaten zunehmenden Trend zu Schwarzarbeit, illegaler Leiharbeit und untertariflicher Bezahlung beobachten die Gewerkschaften mit großer Sorge. Sie fordern schon seit langem das Verbot jeglicher sozial und lohnsteuerfreien Beschäftigung.
Alles zusammen, in der Region Berlin-Brandenburg entsteht eine gefährliche Mischung von sozialer Benachteiligung und Perspektivlosigkeit. Die Politiker sind gefragt. Der DGB und die im Regionalausschuß zusammengeschlossenen Gewerkschaften aus Ost und West fordern daher eine „aktive Arbeitsmarktpolitik in Verbindung mit einer zukunfts- und beschäftigungsorientierten ökologischen Struktur- und Wirtschaftspolitik. Das vor kurzem von Arbeitssenator Wagner vorgelegte 120 Millionen D-Mark teure Programm „Arbeit 90“ hält Michael Pagels für völlig unzureichend. Mindestens eine Milliarde D-Mark muß der Bund für ein effektives Beschäftigungsförderungsprogramm ausgeben.
Eine arbeitsplatzschaffende regionale Wirtschafts-und Strukturpolitik sollte die Errichtung eines „Struktur- und Innovationsfonds“ und die Auflegung eines Berliner „Bürgschaftsfonds“ in Höhe von 300 Millionen Mark enthalten. Gegründet werden müßte eine Berliner Landesstrukturbank und eine regionale Wirtschaftsförderungsgesellschaft. Mit staatlicher Westhilfe investiert werden sollte bald in all die Bereiche, die die Umwelt und die Infrastruktur verbessern. Priorität brauchen der Gewässerschutz, die Emmissionsminderung bei Industrieanlagen, die Sanierung von Bodenverunreinigung und der Ausbau des Verkehrswegenetzes. Gefördert werden sollten Forschungseinrichtungen, die die Innovationsfähigkeit der DDR-Betriebe erhöhen. Notwendig wäre die Errichtung von modernen Industrie- und Technologieparks am Rande der Stadt. (Beton statt Natur! säzzer)
Die Wirtschafts- und Währungsunion im Großraum Berlin erfordert nach Ansicht der Gewerkschaften nicht nur betriebliche Umschulungsprogramme und viel Geld, sondern auch eine „möglichst schnelle“ Harmonisierung der Lohn- und Tarifverträge. Die Lohndifferenz zwischen Ost und West wird kleiner, wenn die in der DDR üblichen betrieblichen Sozialleistungen mitverrechnet werden. Ein „gespaltener Lohn“ würde zu einer erheblichen zusätzlichen Belastung des Westberliner Arbeitsmarktes führen. „Es ist auch nicht einzusehen“, erklärte Michael Pagels, „daß nach Schaffung einer Verwaltungseinheit für Ost- und West-Berlin ein Busfahrer in Marzahn weniger verdient als sein Kollege von der U-Bahnlinie 1.“
aku
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