Bittere Zukunft für Bitterfeld

■ Gestern wurde von der DDR-Regierung das Sanierungsprogramm für die Katastrophenregion im Bezirk Halle verabschiedet. Fraglich ist, ob der Chemiestandort überhaupt noch zu retten ist: Ökologisch bereits so gut wie ruiniert, droht Bitterfeld-Wolfen durch die Weltmarktkonkurrenz auch in ökonomischer Hinsicht das Aus.

„Colafluß“ nennen die Bitterfelder diesen Schlammgraben seiner braunschwarzen Farbe wegen, doch von fließen kann hier keine Rede mehr sein: Ein zäher Brei schiebt sich träge durch das zwei Kilometer lange, künstliche Bett, das die Abfälle des Chemiekombinats Bitterfeld (CKB) und des Fotochemischen Kombinats im benachbarten Wolfen - 30 Kilometer nördlich von Leipzig - in den Elbzufluß Mulde leitet. Dickflüssige Wellen schieben sich langsam übereinander - ein blasenwerfender Pudding, dessen Oberfläche ölig glänzt.

Scheinbar unbekümmert um den hochgiftigen Chemikalienkanal pflanzen in der benachbarten Schreberkolonie die Kleingärtner Salat und Erdbeeren an. Woher nimmt man den Mut, die Schreberernte auch noch zu verspeisen? Schulterzucken bei einem der Kolonisten und die vage Hoffnung, daß es in den nächsten Jahren besser werde. „Viele übernachten in ihren Parzellen“, berichtet er aus dem idyllischen Schreberleben, „doch wenn die nachts bei Südostwind ihre Schornsteine abblasen, müssen wir abhauen.“ Der Wind drückt die gefährlichen Gase auf den Boden, der Giftnebel kriecht dann langsam auf die Kleingartensiedlung zu: Wer nicht ersticken will, packt seine Siebensachen. Die Schreber protestieren seit Jahren beim Rat des Kreises, lange vergeblich, jetzt mit um so drastischerem Erfolg: Nach ersten Bodenuntersuchungen sollen einige Kleingärten geschlossen werden, in vielen Parzellen ist die Kontamination so hoch, daß keine Lebensmittel mehr angebaut werden dürfen.

Angst vor der

vollen Wahrheit

Seit 100 Jahren trägt die Region um Bitterfeld („die dreckigste Stadt Europas“, 'Der Spiegel‘) die Altlasten und Abfälle der chemischen Industrie. Die beiden Chemiekombinate, die heute knapp 30.000 Menschen beschäftigen, produzieren in Anlagen aus der Jahrhundertwende. Undichte Leitungen, rostende Kessel, tropfende Fässer prägen die Chemielandschaft. Auf den wahllos zusammengekippten Abfallhalden rund um Bitterfeld und Wolfen türmen sich Industriemüll (1989: 65.000 Kubikmeter), Bauschutt, Hausmüll (230.000 Kubikmeter) und Fäkalien (88.000 Kubikmeter) übereinander. Kein Mensch weiß, welche Ingredienzien hier im einzelnen vor sich hin brodeln. 85 Altlasten hat der Kreisbeauftragte für Umwelt bisher aufgelistet: die Spitze eines ökologischen Müllberges. Die ehemalige Heidelandschaft ist zudem von den Abbaubaggern des Braunkohlekombinats Bitterfeld (BKK) zerfurcht.

Die Bürger von Bitterfeld, Ende letzten Jahres durch die ökologischen Hiobsbotschaften aufgeschreckt, bekommen langsam Angst vor den Konsequenzen des Ökozids. Wie viele Teilbetriebe müssen geschlossen werden, wie tief greift das Sanierungsprogramm der Regierung in die Zukunft des Chemiestandortes ein? Im Umweltbüro von Bitterfeld, das Anfang Februar vom Rat des Kreises eingerichtet wurde, häufen sich die ängstlichen Anfragen um die wirtschaftliche Zukunft. Rolf Weiher, einer von derzeit drei Mitarbeitern im dortigen Beratungsdienst: „Wir sind in erster Linie dafür da, den Bürgern Mut zu machen. Soweit sind unsere Leute noch nicht, daß sie die volle Wahrheit ertragen.“ Deshalb erzählt Weiher den besorgten Werktätigen, daß in Bitterfeld „mittelständische Bauunternehmen“ ansiedeln könnten, die die verfallenen Häuser der Stadt restaurieren sollen. Zusätzlich könnten die durch Betriebsschließungen „freigesetzten“ Arbeitskräfte im Dienstleistungskombinat des Kreises eingesetzt werden. „Hier fehlen 5.000 Arbeitskräfte“, beschwichtigt Weiher die Angst vor Arbeitslosigkeit. Tatsächlich streut er den Bitterfeldern Sand in die Augen. Die Aufrechnung von „Freisetzungen“ gegen freie Arbeitsplätze ist für ihn in Wahrheit eine „Milchmädchenrechnung“. Was ab Juli nach den Regeln des Marktes überhaupt noch produziert werden kann, „ist derzeit völlig unklar“.

Bilanz des Ökozids

Ein beißender Geruch an der Verbindungsstraße Wolfen -Bitterfeld kündigt eine weitere Station auf der Sightseeingtour durch die vergiftete Landschaft an. Der „Silbersee“, ebenfalls ein Taufname des volkseigenen Mundes (wegen des hohen Quecksilberanteils in der Brühe), erstreckt sich über eine Fläche von drei Quadratkilometern. So dickflüssig ist der schimmernde Chemotümpel hinter den Büschen der Landstraße, daß er einen Stein schluckt, ohne auf der Oberfläche Wellen zu hinterlassen.

Als Grundlage für das Sanierungsprogramm der Regierung hat der Rat des Kreises Bitterfeld die Umweltschäden des Jahres 1989 (soweit meßbar) in einem ersten Bericht zusammengefaßt: 93.967 Tonnen Schwefeldioxid, 39.843 Tonnen Staub, 9.702 Tonnen Stickoxide, 12.450 Tonnen Kohlenmonoxid, 5.318 Tonnen Schwefelverbindungen, 637 Tonnen Fluor, 1.686 Tonnen Chlor und Chlorwasserstoff, 158 Tonnen Ammoniak und Amine sowie 15.177 Tonnen Kohlenwasserstoffe bliesen die verrotteten Kombinatsschlote nach dieser Statistik im letzten Jahr in die Luft. In dicken Schwaden hängt die verpestete Luft über der Stadt, und auch dafür hat der Volksmund einen Namen erdacht: Unmittelbar neben dem CKB-Gelände verläuft die „Straße der tausend Düfte“.

Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung der toten Region waren dem SED-Staat lange bekannt. Eine Studie von Rostocker Ärzten aus dem Jahr 1980, die Kinder der Bitterfelder Region im Alter von sechs bis zehn Jahren untersucht haben, wies eine „positive Korrelation zwischen Staubbelastung und Verzögerung der Knochenreife“ nach. Die Konsequenz: Bitterfelder Kinder sind ihren Altersgenossen im Wachstum um acht Monate zurück. Weiter diagnostizierten die Ärzte häufige Erkrankungen der Luftwege und eine „negative Beeinflussung der Lungenfunktion“. Auch die Gesundheitsprognose der Ärzte klingt wenig euphorisch: „Bei dauernder Einwirkung von belastenden Umweltfaktoren können dieRegulationsmechanismen des Organismus pathologisch entgleisen.“

Keine Mehrheiten

für Gesamtstillegung

Die Bestandsaufnahme für Bitterfeld wird teuer und bitter. Ob die Region aus ökologischer Sicht überhaupt noch zu sanieren ist, bleibt fraglich. Rainer Frommann, oberster und zusammen mit seinem Kollegen Richard Forner einziger beamteter Umweltschützer des Kreises Bitterfeld, glaubt nicht mehr an eine Zukunft für die Kombinate. Er hält die Sanierungspläne rundweg für Kosmetik. Er verlangt nur eine Sofortmaßnahme: die Still legung der ganzen verrotteten Chemie. Schrotthaufen bleibt Schrotthaufen. Doch für die Gesamtstill legung gibt es keine Mehrheit mehr in der Region. „Ein bissel schizophren“ sei die Haltung der Bitterfelder, die noch vor Monaten „mit gewaltigen Demonstrationen“ für ein Ende der Giftschleudern kämpften. Jetzt sei kaum noch einer für die Umwelt zu mobilisieren. Ungeschminkt und mit traurigen Augen beschreibt Frommann die Situation im Ökokatastrophengebiet. Aber eines will er trotz allem nicht vergessen: „Wir haben noch Biber hier, Störche und Eisvögel, das können Sie auch mal schreiben.“

Markus Daschner