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Lernen ohne Behinderung - ein Berliner Projekt

■ Vom „besten Schulsystem der Welt“ zum kinderfreundlichen Modell „integrativer Klassen“ / „Versuchsstatus“ der 8. Oberschule in Weißensee, gesunde und behinderte Kinder zusammen zu unterrichten / Sonderschullehrer befürchten Kompetenzeingriff

Berlin (taz) - Seit vor einigen Wochen die Meldung über „Integration an einer Oberschule“ durch die Medien ging, herrscht Unklarheit, Verunsicherung bei Eltern, LehrerInnen, vor allem bei SonderpädagogInnen: ein Mythos ging den Bach hinab - der Mythos von „bildungsfähigen“ und anderen behinderten Kindern. Bisher galt die getrennte „Beschulung“ in der Regelschule und einer Sonderschule mit Internat in der DDR als optimal. Da wurden „bildungsfähige“ und „förderfähige“ Kinder qualitativ genormt, bis hin zur Einschätzung „Förderungsfähigkeit“.

Karl-Heinz Höhn, amtierender Stellvertreter des Ministers für Bildung und Wissenschaft und verantwortlich für pädagogische Rehabilitation: „Selektives Vorgehen führte dazu, daß Behinderte oft weitab von zu Hause wie im Reservat aufwuchsen. Lernen in der Sonderschule war und ist aber eine zusätzliche Behinderung.

Zehn bis zwölf Prozent der Kinder in der DDR sind physisch oder psychisch behindert. Jetzt soll begonnen werden, sie in die Arbeit mit Nichtbehinderten einzubeziehen, aber vieles scheitert an der Bereitschaft der Lehrer und Erzieher.“ Michael Verworn, stellvertretender Direktor der 8. Oberschule in Weißensee, sieht das anders: „Da kommen Leute wie wir, die maßen sich an, behinderte Kinder besser unterrichten zu können. Für die Sonderschullehrer ist das ein Kompetenzeingriff, außerdem fürchten sie um ihre Existenz, wenn sie hören, daß in Italien nur circa 1 Prozent aller behinderten Kinder nicht in die Regelschule gehen und das sind extrem verhaltensgestörte und aggressive Kinder.“

In einem Punkt sind sich Höhn und Verworn einig: Diejenigen, die gewisse Vorrechte hatten - zum Beispiel Wissenschaftler der Akademie für Pädagogische Wissenschaften (APW) - sahen sich integrierte Klassen im westlichen Ausland an und erklärten nach ihrer Rückkehr in das „Land mit dem besten Bildungssystem der Welt“, warum Integration untauglich sei. Michael Verworn äußert sich dazu vorsichtig; dieselben Wissenschaftler arbeiten heute in Arbeitsgruppen beim Ministerium oder der APW und sind mit der wissenschaftlichen Betreuung integrativer Modelle beschäftigt.

Noch zu der Zeit, als man glaubte, eine neue DDR aufbauen zu können, gab das Ministerium „grünes Licht“ für Integrationsschulen. Allerdings vertreten LehrerInnen, DirektorInnen, SchulberaterInnen völlig unterschiedliche Ansichten über Integration: „Ein bis zwei Körperbehinderte in einer normalen Klasse“, „verhaltensauffällige Kinder zusammen mit anderen Regelschülern bis zur vierten Klasse“ und „integrierte Gesamtschule“ war zu hören, was nichts anderes bedeutet, als Real-, Hauptschule und Gymnasium unter einem Dach. Wen wundert's, daß ein Schulberater in Treptow das Modell als Weisung „von oben“ verstand.

Michael Verworn bedauert, daß es bisher noch nicht zu einem Meinungsaustausch unter interessierten Eltern und PädagogInnen gekommen ist. Viele wissen nicht, was konkret auf sie zukommt, denn „wenn ich mich hinsetze und frage: wollen wir Integration? - dann möchte jeder behinderten Kindern erstmal helfen. Was das für die persönliche Praxis bedeutet, ist damit noch lange nicht klar.“

Michael Verworn, seit einem Jahr mit der Idee vertraut, entwickelte gemeinsam mit anderen Eltern behinderter Kinder sein Konzept. Inzwischen bereiten sich die PädagogInnen auf den Start im September vor: Kontakte zu einer Westberliner Integrationsschule, zu WissenschaftlerInnen von Freier Universität, Technischer Universität in Berlin und anderen Einrichtungen sollen dabei helfen. Entscheidend sei gewesen, daß sich Motivation entwickeln konnte, mit Appellen oder Vorgaben ist bei den SchülerInnen nichts zu erreichen. Heute gibt es nur ganz wenige unter ihnen, die das Projekt belächeln.

„... nicht lernen müssen“

Wie die Schule ab September aussehen wird, darüber gibt es sehr genaue Vorstellungen, doch Michael Verworn möchte nicht „zu den Extremisten gehören, die orthodox auf Peter -Petersen, Frenet oder Montessori schwören.“ Die Information über deren Ausrichtung und Erfahrungen anderer Länder, zum Beispiel Italiens, hält er für wichtiger. Abbau des Leistungssystems, Betreuung durch zwei LehrerInnen, projektorientierter Unterricht gehören dazu. „Die Kinder werden lernen, aber nicht lernen müssen. Diktate sind wichtig - wann zu schreiben, das entscheidet das Kind selbst. Funktionsecken werden ermöglichen, daß die Kinder auch während des Unterrichts - Möglichkeiten zum Basteln, Spielen, Malen und Kuscheln haben.“ Im übrigen sei es nicht nötig, ständig eine Ärztin, eine Physio- und Psychotherapeutin im Haus zu haben. Ein- bis zweimal pro Woche ist ausreichend. Sein Argument, integrierte Schulen sind weniger finanzaufwendig als das getrennte Schulsystem, findet allerdings bei einigen SonderschulpädagogInnen wenig Anklang. Dazu meint Michael Verworn: „Da geht es plötzlich nur noch um die zu verteidigenden Internatsplätze und nicht mehr um die Kinder.“

Um das Projekt seiner Schule nicht zu einem Insider-Tip werden zu lassen, rät er, alle behinderten Kinder auf jeden Fall in Regelschulen anzumelden. Trotzdem - vier Plätze für SchulanfängerInnen in einer integrativen Klasse sind für September 1990 noch frei.

Jörg-D. Gemkow

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