Schlichte Beobachtung

 ■ S T A N D B I L D

(Notaufnahme, Mi., 16.5., 21 Uhr, Nord 3) Mit diesem Film beschloß die Nordkette eine Reihe mit Filmen des französischen Dokumentaristen Raymond Depardon, der aus Prinzip ganz zurücktritt hinter das Gezeigte. Notaufnahme, das hört sich spektakulär an, aber das täuscht. Neunzig Minuten lang interessiert sich Depardon gerade für die alltäglichen Fälle in der Notaufnahme der psychiatrischen Abteilung des Hotel Dieu auf der Ile de la Cite in Paris, nicht weit von Notre Dame. Der Filmemacher und sein Team registrieren in erster Linie Gespräche, die Fragen der ÄrztInnen, die Antworten, die Erzählungen, die Tiraden der PatientInnen. Teils kommen sie freiwillig, teils werden sie von der Polizei gebracht, teils vom Hausarzt eingewiesen. Ihre Fälle sind banal: Ein Alkoholiker, der rückfällig wurde; ein Busfahrer, der im Verkehrsgewühl ausgerastet ist; eine Frau, die eine Überdosis Schlaftabletten genommen hat; eine verhärmte Alte, grenzenlos unglücklich; ein 65jähriger, den die Pensionierung und der Tod der Mutter so einsam werden ließen, daß er lieber sterben möchte und von der Ärztin im Spaß, der bitterer Ernst ist, Zyankali erbittet. Warum, will die Ärztin wissen? „Weil ich das Leben satt bin“, erwidert er und sagt später knapp: „Kein Interesse mehr.“

Depardon dokumentiert Worte und Sätze (vom Sender glücklicherweise in der Originalsprache belassen), die kein Autor schreiben und kein Schauspieler glaubwürdig wiedergeben könnte. Sie sind alltäglich, schlicht und banal, aber sie geben mehr vom wirklichen Leben der „schweigenden Mehrheit“ preis als jede Studie, jede Statistik, jeder dicke Wälzer. Die Menschen vor der Kamera haben keine Wohlstandsticks; mit Psychogruppen in der Toskana oder ähnlichem Selbstfindungsschnickschnack ist ihnen nicht geholfen. Erniedrigung, Verachtung, Vergewaltigungen, Einsamkeit, die Ablehnung durch ihre Umwelt, Arbeitsstreß, das alles hat sich summiert und irgendwann, wenn Alkohol oder Tabletten nicht mehr helfen, bricht es eben aus ihnen heraus. „Glücklich war ich nie“, sagt eine Patientin lakonisch, „weil ich immer so sensibel war.“ Die wenigsten jammern, sie berichten sachlich; selten, daß jemand von Tränen überwältigt wird.

Depardon hat recht, wenn er auf Psychoschmus und Betroffenheitsgelärme, überhaupt auf jeden Kommentar verzichtet und seine Darsteller für sich sprechen läßt. Wenn der Abspann beginnt, braucht nicht noch einmal gesagt zu werden, daß die PsychiaterInnen in diesem Hospital nur Symptome behandeln. Die Ursachen für das Leiden (nicht nur) dieser Menschen liegen ganz woanders.

Harald Keller