: Flucht in die DDR
■ Täglich treffen über hundert Rumänen, vorwiegend Roma, im Ostberliner Bahnhof Lichtenberg ein. Über 1.300 Flüchtlinge sind in einer Kaserne der Nationalen Volksarmee untergebracht. Rund 1.600 Rumänen sind in den letzten drei Monaten nach West-Berlin weitergereist. Gestern beklagte sich Innensenator Pätzold in Bonn. Er sieht einen „dringenden Handlungsbedarf“.
Im Ostberliner Bahnhof Lichtenberg spielen sich seit gut einer Woche Szenen ab, die auf den ersten Blick an die Ankunft von Übersiedlern in der BRD erinnern. Dreimal am Tag treffen hier Züge aus Bukarest ein - jedesmal steigen ein paar Hundert Rumänen aus. Nur gibt es hier keine Freudentränen, keine Blaskapellen, die Nationalhymnen zur Begrüßung spielen, keine Fahnen- und Fähnchenschwenker. Die Ankömmlinge haben wenig oder gar kein Gepäck, tragen abgerissene Kleider, manche haben keine Schuhe. Ihr Gesundheitszustand ist oft erbärmlich. Etwa 80 Prozent sind rumänische Roma, außerdem deutschstämmige Rumänen und Bulgaren.
300 Menschen haben die Helfer des Roten Kreuzes in Lichtenberg gestern morgen wieder gezählt. „Die meisten ziehen erst mal los in die Stadt oder nach West-Berlin, um sich umzusehen“, sagt eine Mitarbeiterin. Doch abends geht dann die schwierige Suche nach Schlafplätzen los. In einer Kaserne der Nationalen Volksarmee in Biesdorf werden Neuankömmlinge nur noch nachts in Notfällen aufgenommen, eine Turnhalle in der Nähe des Bahnhofs Lichtenberg ist mit über 200 Leuten überbelegt. 150 schliefen gestern wieder auf dem Bahnhof - notdürftig auf zusammengeschobenen Bänken oder mit dem eigenen Gepäck als Unterlage.
Sie kommen, weil wachsender Nationalismus das Leben gerade für Roma in Rumänien immer unerträglicher macht. Andere haben sich in den Zug gesetzt, um sich hier medizinisch behandeln zu lassen und dann wieder nach Hause zu fahren. Manche versuchen, weiter in die Bundesrepublik zu reisen, und werden an der innerdeutschen Grenze wieder abgewiesen. Andere steigen in den Schwarzhandel ein, tauschen schwarz, verkaufen billige Musikelektronik und Textilien. Der Alexanderplatz erlebte vor zwei Tagen seine erste große Razzia.
Welten prallen
aufeinander
Viele verlassen tagsüber ihre trostlosen Unterkünfte und schlagen sich in West-Berlin mit Betteln durch. Die Nachbarn der Biesdorfer Kaserne reagieren reserviert bis feindselig. Allerdings nicht alle: Manche geben Kleiderspenden ab, werfen kurz einen Blick auf das Chaos in die Kaserne und ziehen sich zurück. Welten prallen aufeinander.
NVA-Major Harry Kretschmer hofft wegen der ungewohnten Arbeit in der Kaserne nun auf Zivildienstleistende. Eigentlich hätte er seinen Arbeitsplatz schon räumen sollen, die Übergabe der Kaserne an einen zivilen Betrieb war geplant. Seit dem 29. April muß der Offizier jedoch Tätigkeiten verrichten, die in seiner Soldatenausbildung nicht vorgesehen waren: Die rund 1.300 Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien wollen jeden Tag mit Schlafplätzen, Kleidern und Essen versorgt werden.
Auf Untergebene kann Kretschmer nicht zurückgreifen: Seitdem sich DDR-Soldaten per Absichtserklärung aus dem bewaffneten Dienst verabschieden und in den Zivildienst überwechseln können, fehlen die unteren Ränge in der Kaserne. Bis seine ehemaligen Untergebenen als Zivildienstleistende zur Flüchtlingsbetreuung in die Kaserne zurückkehren, befürchtet Kretschmer, vergehen ein paar Wochen.
Viele Ressentiments
Die Verständigung ist schwierig - nicht nur für ihn, und nicht nur sprachlich. Etwa zwanzig Dolmetscher für Rumänisch gebe es in Berlin, schätzt Jutta Höhne, die seit dem 29. April in der Kaserne arbeitet. Sie übersetzt, vermittelt und schlichtet rund um die Uhr. Die Stimmung in der überfüllten Kaserne ist zunehmend gereizt. Die Ressentiments deutschstämmiger Rumänen gegenüber den Roma sitzen tief. „Die betonen immer sofort, daß sie nichts mit den Zigeunern zu tun haben“, sagt Frau Höhne. Sehen sich die Offiziere und Magistratsmitarbeiter nicht mehr in der Lage, Streitereien zu schlichten, wird die Volkspolizei gerufen. Die von manchen befürchteten Überfälle von Rechtsradikalen hat es bislang nicht gegeben, „das ist der Vorteil eines Armeeobjekts“, konstatiert Major Kretschmer und deutet mit ausladender Geste auf das eingemauerte Areal.
Die ersten Flüchtlinge sind bereits im Oktober letzten Jahres gekommen. Ende März suchten immer mehr Menschen nachts in den Warte- und Schalterhallen des Bahnhofs Unterschlupf. Die Bahnhofsstation des Roten Kreuzes war anfangs die einzige Anlaufstelle, die im Rahmen ihrer Möglichkeiten Hilfe bieten konnte. Der Magistrat bequemte sich erst auf nachhaltigen Druck von Almuth Berger, der Ausländerbeauftragten der DDR, dazu, Quartiere zur Verfügung zu stellen. Ende April wurde schließlich die Biesdorfer Kaserne geöffnet.
Die Stadt ist überfordert
Seit Tagen bemühen sich Almuth Berger und die gerade berufene Ausländerbeauftragte beim Berliner Magistrat, Anetta Kahane, um weitere Unterkünfte. Die Stadt ist organisatorisch und politisch mit den Flüchtlingen überfordert. „Jetzt rächt sich, daß die karitativen Strukturen in der DDR fast vollständig zerstört worden sind“, sagt Kahane. Sie will einen Notruf an internationale Hilfsorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Religionsgemeinschaften und Gewerkschaften initiieren, um finanzielle Hilfen zu erbitten.
Unterdessen ist zwischen den beiden Ausländerbeauftragten und den Vertretern mehrerer Ministerien ein zäher Kampf um die politische Weichenstellung ausgebrochen. Im Innenministerium des DSU-Mannes Peter-Michael Diestel wird entschieden für Abschottung plädiert. Presseerklärungen und Stellungnahmen zeichnen sich durch Überschwemmungsrhetorik aus. Diestel wurde mit den Worten zitiert, der Flüchtlingsstrom nehme „völkerwanderungsähnliche Züge“ an. „Ein unwürdiges Äußeres“ dichtete der Minister den Flüchtlingen bereits in einer Stellungnahme Ende April an und forderte Einreiseeinschränkungen. Als erster Schritt sollen nur noch Rumänen einreisen dürfen, die eine Einladung von DDR-Bürgern vorweisen können.
Aus dem Außenministerium war am Montag noch zu hören, Einreisebeschränkungen kämen nicht in Frage. Ein erneuter Vorstoß Diestels auf einer Sondersitzung einer eigens einberufenen Regierungskommission scheiterte am Widerspruch der beiden Ausländerbeauftragten.
Die Abschottung ist
eine Frage der Zeit
Doch letztlich ist die Abschottung der DDR-Grenze in Richtung Osten eine Frage der Zeit. Die Innenminister beider deutscher Staaten haben sich bereits vor Wochen auf eine Vereinheitlichung der Einreise- und Visabestimmungen geeinigt. Auch der rot-grüne Senat in West-Berlin fordert eine „Einreiseunion“, die Angehörigen von ehemaligen Ostblockländern beim Grenzübertritt nach West-Berlin in Zukunft ein Visum abverlangen würde - ein Vorstoß, der ursprünglich auf die polnischen Touristen und Händler abzielte und den SPD-Innensenator Erich Pätzold nun mit besonderer Dringlichkeit durchgesetzt wissen will. Einen entsprechenden Brief schickte er gestern an Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ab.
Daß sich diejenigen, deren wirtschaftliche Lage in den verschiedenen östlichen Ländern unerträglich geworden ist, von den neuen Bestimmungen abhalten lassen, glaubt auch in den Ministerien und Rathäusern niemand. Doch die Erkenntnis, daß die Stadt auch in den nächsten Jahren Drehscheibe und Fluchtpunkt für die Armen Osteuropas werden wird, fällt schwer - und ist in Zeiten wachsender Ausländerfeindlichkeit in Ost- und West-Berlin kaum zu vermitteln. Hauptstadtambitionen lassen sich da besser verkaufen.
Andrea Böhm
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