: VON MACHU PICCHU NACH AVALON
■ Einige Bemerkungen über ein Jahrzehnt esoterische Reisen, Reiseführer und sonstige Medien
Reisefreiheit - das Wort des Jahres in der BRD, das Wort mit dem magischen Klang für alle Bürger der DDR, hatte die wissenden Bewohner des kapitalistischen Westens nur noch zum Grinsen gebracht: Für sie hatten diese vier Silben längst eine andere, ambivalente Bedeutung angenommen.
Im vergangenen Jahrzehnt war Westeuropa zum internationalen Zentrum des Handels mit Secondhand-Mystik geworden. Die Punk -Parole „No future“ wurde abgelöst durch das Feyerabendsche Motto „Anything goes“. Der Zeitgeist sprang im Viereck. Beim Kartenverteilen im Karriere- und Finanzpoker witterte so mancher Tunix seine Chance.
Harte Politcracks gingen in die Berge und meditierten über das weiche Wasser, das den harten Stein bricht, Reporter degradierten sich zu Hofberichterstattern obskurer Halunkengurus, und Präsidenten von Supermächten ließen sich die Vorschläge für die nächste Abrüstungskonferenz von ihrem Hausastrologen soufflieren. Ashrams, Therapiehöfe, esoterische Buchläden und Psylocibin-Farmen schossen wie Pilze aus dem Boden. Überall raunte es von „sanfter Verschwörung“ und vom „Wassermann-Zeitalter“. Dabei hatten gerissene Politiker das „Wassermann-Zeitalter“ längst in „Wende-Zeitalter“ umbenannt.
Pilgerfahrten kamen wieder in Mode. Es wurde überhaupt viel gereist: nach Altötting, Poona, Katmandu (immer noch), Oregon, Stonehenge und zum Teutoburger Wald. Jeder konnte und wollte nach seiner Facon glücklich werden; auch die Reiseveranstalter. Das Angebot war groß: Tai Chi in Tschenstochau, gruppendynamisches Mundharmonikaspielen in der Toskana und rituelles Runenritzen an den Externsteinen; nicht zu vergessen die mystischen Wildwasserfahrten in Äthiopien. Echte Eingeweihte als Reiseführer und genuine Ekstasen waren im Preis inbegriffen. Clevere Busineßleute verkauften Seelenheil en gros et en detail. Je exotischer der Ort, je bizarrer das Programm, um so teurer war es.
Kultplätze waren wieder en vogue, als die wenigen echten Gurus vor der Invasion der Tofu&Trance-Touristen in abgelegene Höhlen im Taunus und Odenwald Schutz suchten. Makler verkauften überteuerte Eigentumswohnungen als rituellen Boden.
Irgend jemand hatte etwas verwechselt! Dabei war doch alles so einfach! Der Großmeister der italienischen Gegenwartsliteratur hatte es zum Ende des Jahrzehnts vorgeführt: Die wirklich interessanten Reisen finden im Kopf statt (alte Volksweisheit)!
„Auf den Spuren der Tempelritter durch Europa“ hieß die Antwort der Veranstalter auf dieses Manifest der Vernunft. Aber die echten Wissenden hatten ohnehin schon seit Jahren die alten Weisheitsbücher studiert, die von arbeitslosen Akademikern zu Hunderten in Trance empfangen und im Goldrausch in den PC gehackt wurden. Die Trends lösten sich schneller ab als die Disketten gewechselt werden konnten. Nach der Spätpsychedelikphase, die in genialen Werken wie etwa Mit Lysergsäure nach Lhasa sublim aufgearbeitet wurde, kam die Reinkarnations-, die Bhagwan-, die Schamanismus-, die Sufismus-, die Runen-, die Crowley-, die Kabbala-, die Tarot-, die Satanismusphase, um nur einige wichtige zu nennen. Natürlich muß in diesem Zusammenhang auch die feministische Wicca-, die Mond- und Fruchtbarkeitsgöttinnenphase genannt werden.
Überliefertes Schriftgut aus jenen wirren Jahren trägt Titel wie Ich ging den Weg der Fichte (Schamanismus), Selbstverteidigung mit Sandelholz (Okkultismus), Ich flog von der Schule (Astralreisen), Telepathisch Telefonieren (Telepathie) usw. usf.
Erwähnenswert ist auch die stupende Biographie eines Überlebenden dieser Zeit, Vom Irrwisch zur Derwisch, ein echter Klassiker der spirituellen Szene. Dieser Schlüsselroman beginnt bei A wie Orgon-Akkumulator und endet bei Z wie Shiatsu.
Die Leser lechzten nach Sinn in all diesen Jahren und die Verleger nach Profit. Jeder zweite in der Bundesrepublik betätigte sich als Astrologe, Kartenleger oder Pizzabäcker. Aber das Datum der deutschen Wiedervereinigung wagte keiner der Hobbydruiden vorauszusagen.
In eingeweihten Kreisen munkelte man zum Ende des Jahrzehnts, daß eine Fraktion des Internationalen Druidenverbandes die gewaltlose Revolution in der DDR mit dem klassischen Schlachtruf „Mehr Licht“ an einem Smogtag in Leipzig ausgelöst habe. Auch solle die SED in Wirklichkeit eine Tarnorganisation gewesen sein: Die Abkürzung SED laute dechiffriert Sozialistische Einheitsfront der Druiden.
Erste Vorabbesprechungen für joint-venture-Unternehmungen in der DDR haben schon stattgefunden. Der Karl-May-Verlag wird ein Frühwerk von Karl Marx über Hegel und seine Beziehung zur indischen Mystik in Radebeul veröffentlichen, erste Walpurgisnachtfestivals mit sozialistischen Sündenböcken sind auf dem Brocken geplant, und Erich Honecker schreibt seine Memoiren, die unter dem Titel Ich war der Oberguru in Fortsetzungen demnächst in der Zeitschrift 'Titanic‘ veröffentlicht werden sollen.
Mit Spannung blicken alle Initiierten in die Zukunft und hoffen auf viel Vergnügen im nächsten wirren Jahrzehnt.
Michael Göllert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen