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Deutschland, die Juden und die Aufgaben des Tages

 ■ D O K U M E N T A T I O N

I. Die Ausgangslage

Die bevorstehende und teilweise schon geschehene Vereinigung der deutschen Länder hat die Juden in Deutschland und anderswo auf der Welt unvorbereitet getroffen. Entsprechend sind ihre Reaktionen: Sie reichen von konfuser Panik bis zu peinlicher Beflissenheit. Forderungen aus Irsael, wonach die Juden als Hauptopfer des von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieges an entsprechenden Verhandlungen zu beteiligen seien, wirken ebensowenig überzeugend wie die Behauptung, es drohe nunmehr ein antisemitisches Viertes Reich. Beides spiegelt die nachhaltige Schädigung von Juden durch den von den vielen Deutschen erdachten, geplanten, durchgeführten, gewußten und mindestens passiv gedulteten Holocaust wider. (...)

II. Die Situation

Die Interessen von Juden erstrecken sich derzeit in Deutschland und Europa auf drei Dimensionen: die Bewahrung und Sicherung ihrer psychischen Integrität, den Aufbau eines pluralistischen und toleranten Gemeinde- und Gemeinschaftslebens sowie das angemessene Reagieren auf den jetzt offen aufflackernden osteuropäischen Antisemitismus, der sich bisher als „Antizionismus“ mehr schlecht als recht tarnte. Verfolgte und überlebende Minderheiten haben auch lange nach ihrer Verfolgung einen unverbrüchlichen Anspruch auf körperliche, soziale und psychische Integrität gegenüber dem Kollektiv der Täter. Die soziale Lage der Juden in Deutschland ist erträglich, obwohl es gerade im Bereich der Reparationen noch manche Ungerechtigkeit zu beheben gilt. Die körperliche Integrität der ersten Generation ist bekanntlich ebenso beeinträchtigt und versehrt, wie die psychische Integrität der zweiten und dritten gefährdet ist.

Psychische Integrität, die sich nicht zuletzt in einem minimalen Gefühl von Angstfreiheit und Würde manifestiert, ist in aller Regel auf eine entsprechende Verfaßtheit der sozialen Umwelt angewiesen, im Falle von Verfolgten und ihren Nachkommen auf eine bleibende Anerkennung dessen, was ihnen widerfahren ist, sowie auf glaubhafte Zusicherungen, daß sich auch nicht annähernd Ähnliches ereignen könnte. Gemessen hieran hat der von Brandt bis Kohl verbreitete freudige bis dumpfe Wiedervereinigungsnationalismus schon heute verheerend gerade auf die psychische Stabilität heute achtzehn bis zwanzigjähriger jüdischer Jugendlicher gewirkt. (...)

Wenn heute in den Gemeinden wieder häufiger über Auswanderung debattiert wird, so ist dies nicht zuletzt ein Resultat des 9. November 1989. Der Kampf um die Erinnerung gerät so aus dem Bereich von Trauer und Eingedenken zum Kampf um Zukunft und Integrität. Jenseits aller geschichtsphilosophischen Erwägungen gilt: Eine jüdische Zukunft in Deutschland ist um keinen geringeren Preis zu haben als um die bleibende öffentliche Anerkennung der Schuld des größten Teils der deutschen Bevölkerung von 1933 bis 1945 sowie der historischen Verantwortung der nachgeborenen Deutschen.

Es mag sein, daß der jüdische Mohr, nun, nach dem Wiedereintritt Deutschlands in die Weltgeschichte, seine Schuldigkeit getan hat. Dies war seit Bitburg abzusehen und wurde immer wieder betont. Es mag sein, daß das neue Deutschland die Juden ebensowenig will, wie das Deutschland nach 1945 sich dazu verstehen mochte, die vertriebenen deutschen Juden zurückzurufen. Den Juden aber bleibt, wenn sie denn bleiben wollen, keine andere Wahl, als um die symbolische Repräsentanz ihres Leidens hierzulande zu kämpfen. Das solches Beharren auf einen Antisemitismus wegen Auschwitz stoßen wird, darf als gesichert gelten.

Der Sicherung unserer Existenz im Bereich öffentlicher Symbolik entspricht die Aufgabe einer Neubegründung jüdischen Lebens in allen deutschen Ländern. Die etwa fünfhundert offiziell gemeldeten und etwa dreitausend tatsächlich in der DDR lebenden Juden haben sich unter völlig anderen Bedingungen, in einem ganz anderen Selbstverständnis und Weltverhältnis entwickelt. (...)

Paradoxerweise stellt sich das gleiche Deutschland, das die jetzige Generation von Juden hierzulande so verunsichert, den vom Antisemitismus bedrängten Juden Ost- und Mitteleurpas als Hoffnung dar! Der Aufstieg der antisemitischen russophilen Pamjatpartei in der Sowjetunion, der Wahlsieg des chauvinistischen MDF (Ungarisches Demokratische Forum) in Ungarn und der wiedererwachende Faschismus in Rumänienen, vom Antijudaismus polnischer Bischöfe ganz zu schweigen, ließ bisher die USA beziehungsweise als zweite Wahl Israel zum Emigrationsziel vieler ost- und mitteleuropäischer Juden werden. Auch Deutschland wird, wie stets in den vergangenen vierzig Jahren, zum Durchgangs- und Einwanderungsland für osteuropäische Juden werden. Mit einem Unterschied. Es werden mehr denn je sein. (...)

III. Die Aufgabe des Tages oder: Warum wir als Juden für den Anschluß der DDR nach Artikel 23 eintreten müssen

In dieser Lage sind vordringlich therapeutische, politische und humanitäre Maßnahmen zu ergreifen, die endlich zu einer paradoxen Gesamtstellungnahme zwingen. (...) Seminare, Treffen und Kongresse, begleitet von Psychologen, Historikern, Politikern und Pädagogen werden ein breitenwirksames und intensives Programm zu einer in jeder Hinsicht realistischen Wahrnehmung Deutschlands entwickeln. Gerade die Jugend der Gemeinden hat ein Anrecht darauf zu wissen, wie gefährlich Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wirklich sind, unter welchen politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen in einem destabilisierten Gesamtdeutschland sie leben wird und welche Wege es gibt, unter solchen Bedingungen die eigene Würde und Integrität zu wahren. (...)

Wir wollen die Chance einer Erweiterung unserer Erfahrung, was es heißt, als Juden in Deutschland zu leben, diesmal nicht vertun. (... Es) sollten orthodoxe Rabbiner mit PDS -nahen Mitgliedern von „Wir für uns“ ebenso streiten, wie sich Allianzen zwischen konservativen Gemeindemitgliedern hüben und drüben herstellen könnten. Aber all dies verblaßt neben der Sicherung der Auswanderung von tendenziell bedrohten osteuropäichen Juden. Nachdem die USA die jüdische Einwanderung aus der Sowjetunion gedrosselt haben, die sowjetischen Juden aber nach wie vor in erster Linie in den Westen und nicht nach Israel emigrieren wollen beziehungsweise die sowjetische Immigration nach Israel von der Likud-Regierung in friedensgefährdender Weise in die WestBank gelenkt wird, stehen die Juden Europas vor ihrer bisher größten Aufgabe, nämlich Westeuropa als einen Zufluchtsort für bedrohte Juden offen zu halten und zu öffnen.

(...) Eben diese Aufgabe wird humanitär gesonnene Menschen in der Bundesrepublik Deutschland in einen schmerzlichen Gegensatz zu all jenen bringen, die - wenngleich als Minderheiten - heute für eine erneuerte Demokratie in allen deutschen Ländern eintreten und daher der Meinung sind, daß die deutsche Vereinigung im Rahmen einer offenen Verfassungsdebatte nach Artikel 146 vor sich gehen solle. Ihnen allen ist entgegenzuhalten, daß sie ihre hochgemuten radikal-demokratischen Ideen auf dem Rücken der Ärmsten und Schwächsten auf diesem Globus ausleben - auf dem Rücken der rassisch, religiös und politisch Verfolgten und Bedrohten.

Es kann bei den gegenwärtigen konservativen politischen Mehrheiten in den deutschen Ländern - bei einer auch nur einigermaßen realistischen Betrachtungsweise - nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß der Artikel 16 Grundgesetz, nach dem politisch Verfolgte Asyl erhalten, eine Verfassungsdebatte nicht überleben dürfte. Ohnehin wollen CDU und CSU seit langem diesen Artikel ans europäische Normalmaß angleichen, das heißt nach unten korrigieren. Ohne die Zweidrittelregelung für Grundgesetzänderungen wäre dies längst geschehen!

Wer eine neue Verfassung will, nimmt die Aufhebung des Artikels 16 in Kauf! Gegenüber abstraktiv universalistischer Gesinnungsethik ist hier auf der konkret universalistischen Verantwortungsethik globaler Solidarität und ihrer Garantien zu beharren. Wenn es in der Bundesrepublik möglich war, unter und mit dem Grundgesetz für mehr Demokratie zu streiten, so wird dies auch in einem nach dem Grundgesetz vereinigten Deutschland möglich sein. Umgekehrt würde ein Deutschland ohne Asylgarantie von Anfang an an einem nationalistischen Geburtsfehler leiden. Man muß nicht für die Wiedervereinigung sein, um darauf zu bestehen, daß sie, so sie denn geschehen muß, nur unter Wahrung der Asylgarantie geschehen darf! Das aber läßt uns keine andere Wahl, als im Fall der Fälle für die Regelung nach Artikel 23 einzutreten.

Die Juden als ein Kollektiv, das vor weniger als fünfzig Jahren noch die Erfahrung der Vogelfreiheit erleiden mußte, wissen die Bedeutung einer internationalen Asylgarantie zu würdigen. Aus Sympathie mit der eigenen Ethnie und aus Solidarität mit all jenen, die Verfolgung erlitten und erleiden, werden wir den nationaldemokratischen Diskurs dem globalen Recht unterordnen. Wenn der Tag es fordert, werden wir - schmerzlich bewußt - für den Anschluß der DDR an das Grundgesetz eintreten!

Nichts anderes heißt „Verfassungspatriotismus“!

Micha Brumlik

Der hier stark gekürzt wiedergegebene Text erschien in: 'Frankfurter Jüdische Nachrichten‘, Pessach-Ausgabe, April 1990.

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