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„Erst wenn du nichts mehr hast, bist du frei“

■ Ein Abend im 37. Stock - in Berlins neuer Spielbank, dem ersten und letzten Kasino der DDR / Um Mitternacht ging dann das Bier aus...

Mitte. „Komm rüber, Kugel, Kugel komm rüber...„

Mit angespannten Gesichtern beobachten die SpielerInnen an diesem Freitag abend in Ost-Berlin die immer und immer wieder kreisende Elfenbeinkugel, wie sie sich mit leisem, ausdauerndem Surren im Roulettekessel dreht. Rübergekommen sind sie fast alle, die SpielerInnen, die sich hier die Nacht um die Ohren schlagen. Rübergekommen aus dem kapitalistischen Aus- und Nachbarland, um das Kuriosum der ersten Ostberliner Spielbank aus allernächster Nähe zu erfahren.

„Und der Spieler setzt alles auf eine Zahl: auf den höchsten Sieg - und auf die tiefste Qual.„

Und dann geht nichts mehr, hastig wirft der ältere grauhaarige Mann unter den strengen Blicken des Chef -Croupiers noch zwei Jetons mit dem Aufdruck „Westdeutsche Spielbank“ auf den grünen Filz. Die übrigen Croupiers, die gerade noch mit ihren rechengleichen Rateaus Jetons hin- und herschoben, verharren in konzentrierter Unbeweglichkeit. Das ersehnte und gefürchtete Klacken der Elfenbeinkugel entscheidet mehr als nur Gewinn oder Verlust eines Spielchips: Hinter den auf dem Spieltisch aufgehäuften Plastikjetons verbirgt sich knallharte D-Mark: Hier, im stickigen, rauchgeschwängerten Kasino im 37. Stock des Ostberliner Hotels „Stadt Berlin“ ist die Ostmark schon Wochen vor der Währungsunion keinen Pfifferling mehr wert.

„Er setzt alles auf die 17 und - 17 fällt! Und mit einem Schlag hat er das 35fache Geld!„

Doch selbst in dem Moment, wo sich die Hoffnungsträgerin Kugel für ihr Zahlenbett entschieden hat, bleiben die Gesichter unbeweglich. Wer Emotionen zeigt, verrät Unprofessionalität. Die hagere Frau mit den unbeweglichen Gesichtszügen schaut uninteressiert ihren in der Bank verschwindenden Jetons hinterher, der dunkelbraune Anzugsmann steckt beiläufig-lässig seinen Gewinn in die Jackentasche.

„35 Riesen - und alle starren ihn an. Und was macht der Spieler? Seht euch den Irren an! Er läßt alles auf der 17, hat man so was schon gesehen, und dann geht nichts mehr...„

Gesprochen wird nur das Notwendigste - „7 bis 12“, „rot“, „26“ - die nervöse Anspannung läßt sich nur in kleinen Gesten erahnen: Der tiefe Zug an der Zigarette, die Hand, die hastig über die Stirn wischt, die Faust, die sich in der Jackettasche zusammenballt. Angenehm freundlich ist lediglich einer der vier Croupiers am Tisch, der nach einer Stunde konzentrierter Arbeit gerade seine 15 Minuten Pause antritt.

Auch die SpielerInnen flüchten immer mal wieder in die angrenzende Bar samt Diskothek und Separees, wo die Gesichtszüge entgleisen und die angespannten Glieder sich lockern können. Doch schon hier lugen wieder die totgeglaubten Ecken des alten Systems hervor; seit Mitternacht ist kein Bier mehr da, doch ansonsten sind alle Getränke für Ostmark zu haben. Da greift vor allem Mann gerne zu, zum Glas und zur Frau, „If only I could“ dröhnt aus den Lautsprechern, man versucht's.

Sind die Gläser leer - Menschen mit Getränken in der Hand müssen mangels Beistelltischen im Kasino draußen bleiben geht es wieder vorbei an den aus Westdeutschland importierten Pagen hinein in den Spielsalon. Lange Zeit bleibt nicht mehr, sein Spielglück zu versuchen, spätestens seit 3 Uhr wird der grüne Filz von Jetons befreit und gekämmt, dann sinken alle Gäste im klimatisierten Fahrstuhl mindestens 37 Stockwerke tiefer. Also: „Machen Sie Ihr Spiel.“ Und noch einmal leeren sich Taschen und Geldbörsen, setzen sich Rateaus samt Jetons in Bewegung, die Elfenbeinkugel kreist - und nichts geht mehr.

„Erst wenn du nichts mehr hast, bist du frei.„

Martina Habersetzer

Die eingeschobenen Texte stammen aus dem Song „Der Spieler“ von Achim Reichel.

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