: Tagliches, politisches Repertoire
■ betr.: "Schändung jüdischer Friedhöfe in Frankreich und Deutschland", Bericht und Kommentar, taz vom 14.590
betr.: Schändung jüdischer Friedhöfe in Frankreich und Deutschland, Bericht und Kommentar, taz vom 14.5.90
Die Reaktion der französischen Öffentlichkeit auf die Schändung und Verwüstung jüdischer Friedhöfe in Carpentras und Clichy sowie auf andere antisemitische Umtriebe ist beeindruckend. Alle politischen Kräfte, von den Kommunisten bis zu den Gaullisten, mobilisierten einhellig gegen den wachsenden Rassismus und Antisemitismus im Lande. Die Zeitungen widmeten den Ereignissen ihre Titelseiten, die Fernsehsender Sondersendungen und Liveübertragungen der Protestaktionen, etwa der Großdemonstration in Paris, unter deren hunderttausenden Teilnehmern die Führung der Katholischen Kirche, die Intellektuellen und die ganze politische Klasse des Landes mit Ausnahme der Faschisten um Le Pen zu sehen waren. In Carpentras selbst schlossen die Geschäfte und der Verkehr ruhte als Zeichen der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde in ihrem Schmerz um die Schändung der Gräber ihrer Toten. Ein buchstäblicher Aufschrei des Abscheus und der Empörung ging durchs ganze französische Land.
Ein ganz anderes Bild legt das sich im 50. Jahr der Errichtung von Auschwitz „wiedervereinigende“ Deutschland an den Tag, in dem die Schändung jüdischer Friedhöfe zum täglichen politischen Repertoire gehört. So wurde zum Jahreswechsel - offensichtlich dem 25. Jahrestag des Bestehens der PLO gewidmet - der alte jüdische Friedhof im württembergischen Wankheim bei Tübingen auf übelste Weise geschändet. Dutzende Grabsteine wurden mit „PLO„-Parolen beschmiert beziehungsweise umgestürzt. Eine Gedenktafel für Opfer des Holocaust wurde beschädigt, der Davidstern herausgemeiselt. Und auf dem Eingangstor stand in großen Lettern: „Der ewige Jude“ und „Israel muß sterben!“. Doch hier endeten die Ähnlichkeiten mit Frankreich.
Das sonst sehr geschwätzige Deutschenspektrum der „grünsten Stadt der BRD“, in der ein alternatives „öko-linkes Bündnis“ die Regie führt, ragte in dieser Stunde durch sein brausendes Schweigen heraus. Keine Partei, keine „Ini“, keine Kirche, keine Gewerkschaft, kein Prof der Unistadt, keine Studentengruppe oder sonstwas Organisiertes, das vom lieben Gott mit einem Mäulchen ausgestattet wurde, erhob seine Stimme. (...)
Der Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland besteht darin, daß das aufgeklärte und republikanische Frankreich von Chirac bis Marchais den Antisemitismus auskotzt, während das gesamte Deutschland, von den Autonomen bis zu den Faschisten, mit den wenigsten Ausnahmen, seinen Antisemitismus in sich hineinfrißt, wie es das mit seiner braunen Vergangenheit größtenteils auch schon getan hat. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Schweigen der linken Unistadt Tübingen zur Friedhofsschändung in Wankheim und der gesamtdeutschen Weigerung, sich des 50. Jahrestags von Auschwitz zu erinnern. Eine derart in ihrer Seele und moralischen Substanz deformierte deutsche Gesellschaft wird
-im Unterschied zu Frankreich oder anderen Ländern - trotz der Gnade ihrer späten Geburt sicherlich wieder mitmachen beziehungsweise wegschauen, sollten Gaskammern in diesem Land wieder in Betrieb genommen werden.
Yossi Ben-Akiva, Tübingen
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