piwik no script img

IM DICKICHT DER STÄDTE

■ "Stattreisen" nennen sie sich und wollen den Touristen ein anderes Bild der Städte vermitteln

„Stattreisen“ nennen sie sich und wollen den Touristen ein anderes Bild der Städte vermitteln

Schon vor dem Mauerfall, erzählt Alexander Schmidt vom Verein „Geschichte für alle“, hätten Jugendgruppen aus der Partnerstadt Gera an Stadtführungen in Nürnberg teilgenommen. Ziemlich schwierig sei es gewesen, beim Stadtrundgang über das ehemalige Reichsparteitagsgelände den Jugendlichen aus der DDR die Geschichte des Nationalsozialismus am Beispiel der „Stadt der Reichsparteitage“ zu vermitteln.

„Die waren aufgrund ihrer Erfahrung durch die Stadtführungen drüben mit diesem Thema zugeknallt“, erläutert Alexander Schmidt. Beim Mahnmal für die Opfer der Gewaltherrschaft 1933-1945 zum Beispiel hätten sie ganz einfach abgeschaltet. Das staatlicherseits verordnete Interesse, die offizielle Geschichtsvermittlung von Faschismus und Antifaschismus im Schulunterricht der DDR vor dem 9. November 1989, hätte nachhaltige Wirkung gezeitigt. „Die kennen das doch bis zum Überdruß. Deshalb waren die Jugendlichen aus Gera auch ganz erfreut“, so Alexander Schmidt weiter, „daß wir nicht dauernd vom Führungsanspruch der KPD im Widerstand gesprochen haben.“

Der Verein „Geschichte für alle“ in Nürnberg ist eine von inzwischen zehn Initiativen in der BRD, die sich einem anderen Konzept des Städtetourismus, der „Stattreisen„-Idee, verschrieben haben. „Im Gegensatz zur distanzierten Reisebusfenster-Perspektive ermöglicht 'Stattreisen‘ das Eintauchen ins städtische Leben, vorzugsweise zu Fuß, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und mit Fahrrädern“ (Selbstdarstellung).

Umweltsünden

„Warum ist es am Rhein so schön?“ - Dieser Frage will „StattReisen Köln“ auf einem Rheinspaziergang mit Bootsfahrt auf die Schliche kommen. „Von der Sagenzeit der Antike bis zur sagenhaften Verschmutzung im zwanzigsten Jahrhundert“: Es sollen auch ökologische Aspekte zur Sprache kommen, beispielsweise soll über die Umweltsünden des Chemiegiganten Bayer informiert werden. „Natürlich interessieren sich die Leute mehr für die aktuellen Lebensbedingungen, zum Beispiel: 'Wie hoch sind die Mieten?‘, als für Geschichten aus der Römerzeit“, berichtet Petra Metzger von „StattReisen Köln“ über ihre Erfahrungen mit DDR-Bürgern auf Rundgängen. Ganz beeindruckt seien die DDRler immer wieder vom Olivandenhof, einem durchgestylten Einkaufszentrum. Dabei müsse sie das schiefe Bild, das durch die postmoderne Architektur erzeugt werde, immer wieder zurechtrücken. Denn auch in Köln könnten es sich nur wenige privilegierte Leute leisten, dort ihre Lebensmittel einzukaufen, Otto Normalverbraucher jedenfalls nicht.

Großstadtpfade

„Ab durch die Mitte“ heißt der zentrale Stadtspaziergang von „Stattreisen Hamburg“, der sowohl Hamburgern wie auch Besuchern „Pfade durch die Großstadt“ weisen soll. „Die DDR -Bürger, die an unseren Rundgängen teilnehmen“, erläutert Piet Beerepoot, „wollen vor allem wissen, wie das hier mit der Arbeitslosigkeit aussieht, wie groß die Wohnungsnot und Obdachlosigkeit ist und wieviel die Sozialhilfe beträgt.“ Um diesem Interesse der DDR-Bürger zu entsprechen, würden die Mitarbeiter von „Stattreisen Hamburg“ die geschichtlichen Anteile auf den Stadtspaziergängen zurückschrauben und die sozialen Folgen des Strukturwandels der Hansestadt, zum Beispiel die Explosion der Mietpreise, in den Vordergrund rücken.

Gut angekommen seien im Rahmen eines Wochenprogramms mit einer Gruppe aus Dresden - Hamburgs Partnerstadt Besichtigungen der Trabantensiedlung Steilshoop und des Stadtviertels Altona/Ottensen. Im Überkreuzvergleich, so Piet Beerepoot, seien die unterschiedlichen Wohnwerte von schnell hochgezogenener Hochhausarchitektur einerseits und organisch gewachsener Bausubstanz andererseits deutlich geworden.

Besonders groß war und ist der Run der DDRler, den Westteil von Berlin kennenzulernen. „Völlig überfordert“ waren die Mitarbeiter von „Stattreisen Berlin“, als sage und schreibe 110 Leute aus der DDR im Februar an einem einzigen Rundgang zur Geschichte des Berliner Bezirks Charlottenburg teilnehmen wollten, blickt Sabine Zausch zurück. Vier Parallelgruppen mußten gebildet werden. Die Mund-zu-Mund -Propaganda hatte gefruchtet, denn früher waren die Rundgänge von „Stattreisen Berlin“ für DDRler noch umsonst. Heute arbeitet „Stattreisen“ mit der Ostberliner Urania zusammen, wo die DDRler jetzt ihren Obulus von fünf bis sechs Mark für Westberliner Stadtrundgänge entrichten müssen.

Daß es höchst unterschiedliche Reaktionen bei den Führungen geben kann, je nachdem ob die Gruppe aus West oder Ost kommt, das hat Sabine Zausch auf einem Spaziergang im hintersten Kreuzberg, in SO36, erfahren. Dort haben Künstler einen ehemaligen Blumenautomaten in eine Automatengalerie umfunktioniert. Man steckt drei Fünfmarkstücke in einen Schlitz - heraus kommt ein kleines Kunstwerk, zum Beispiel eine Skulptur. „Für das West-Publikum ist das ein guter Gag, weiß Sabine Zausch zu berichten. Die Gruppen aus der DDR hingegen hätten bei der Demonstration an dem Kunstautomaten nur schweigend und betreten danebengestanden: „15 Mark für so ein läppisches Zeug da reinzustecken, das ist doch die pure Verschwendung.“

Lebendiger Alltag

1983 gründeten einige junge Leute mit „Stattreisen Berlin“ das erste alternative Stadterkundungsunternehmen. Statt zu reisen, so die Idee, soll man sich in Berlin umgucken, und zwar anders, als die herkömmlichen Stadtrundfahrten es mit ihren traditionellen 08/15-Sightseeing-Touren tun. Nicht nur die typischen Sehenswürdigkeiten abklappern wollen die Leute von „Stattreisen“, sondern auch dem lebendigen Alltag der Stadt nachspüren, und das idealerweise per pedes. Durch die unmittelbare Nähe zum Objekt können nicht nur Ansichten, sondern auch Einsichten vermittelt werden.Die Stadt ist wie ein großes Puzzle. Die verstreut liegenden, scheinbar zusammenhanglosen Einzelteile sollen zu einem Ensemble zusammengesetzt werden.

Die „Stattreisen„-Idee hat Fuß gefaßt. Inzwischen gibt es in neun bundesdeutschen Großstädten Gruppen mit einem ähnlichen Konzept wie in Berlin. Die lokalen Initiativen haben sich zum „Arbeitskreis Neue Städtetouren“ verbunden. Dadurch wollen sie ihre Aktivitäten besser koordinieren, gemeinsam theoretische und praktische Grundlagen der „Statt -Erkundung“ erarbeiten.

Günter Ermlich

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen