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Tabuzonen brechen

■ betr.: "Wir müssen auch Goebbels Ethik diskutieren dürfen", taz vom 18.5.90

Betr.: „Wir müssen auch Goebbels Ethik diskutieren dürfen“, taz vom 18.5.90

„Uns hat's jedenfalls Spaß gemacht“, ist, außer ein fix an die Wand des Hörsaals gesprühtes „Die Ethik ist der Streichelwart der Vernichtung“, gewiß auch ein Diskussionsbeitrag. Na ja, die Sprengung des Seminars wurde jedenfalls erreicht, denn als nach einer halben Stunde ungefähr 50 Leute mit Trillerpfeifen, gegen die Metallwände tretend das Seminar belegten, war es vorbei mit Philosophie und Ethik. Doch Singers Positionen bleiben unwiderlegt.

Medizinisch-technische Entwicklungen ermöglichen bereits heute schwer vorstellbare Eingriffe in das unantastbare menschliche Leben, während die öffentliche Diskussion über Positionen in der angewandten Ethik gern, weil religiös vorbelastet, als Tabuzone erklärt und abgewürgt wird. Jeder empfindet eine solche Diskussion als bedrohend, jedoch ist die Bedrohung das technisch Machbare der Wissenschaft.

Gesellschaftliche Fehlleistungen werden verhindert, indem gesellschaftliche Kräfte frühzeitig entgegenwirken. Diese können nur in der Diskussion entstehen. Emotionen müssen hier konstruktiv wirken und dürfen nicht dort Ängste schüren, wo ein öffentlicher Dialog entstehen muß.

Andreas Kahrs, Student FU Berlin

(...) In diesem Interview mit StudentInnen, denen mensch womöglich mangelnde Klarheit über das Gewicht der von ihnen mitgetragenen Lehre einräumen muß, wird so deutlich wie selten, daß Konflikte, die aus lebensfeindlichen Verhältnissen hervorgehen, niemals zugunsten der unter ihnen Leidenden gelöst werden können, ohne die Verhältnisse an sich infrage zu stellen. Das hat die interviewte Studentin nicht verstanden, wenn sie offensichtlich hofft, mit einem Diskurs über Euthanasie das Recht auf Leben garantieren zu können. Doch die tödliche, rationale Logik greift erst dann, wenn das prinzipielle Einverständnis zum Töten schon gegeben ist, denn erst dann schließt sich die Kette der Fragen nach „wie“, „warum“ und „warum eventuell auch nicht“ an. Das ist die Vorentscheidung, die dieser Diskussion vorausgeht, die behauptet, völlig unvorbelastet die „brennenden Probleme“ der Praxis anzugehen.

Praxis ist, daß der Druck der bestehenden Verhältnisse unvermindert an das isolierte Individuum weitergegeben wird, das mit seiner tabuisierten, irrationalen Angst vor Krankheit und vermeintlicher Hilflosigkeit überfordert ist und diesem Druck in der Weise entgeht, die die geringsten Folgen befürchten läßt: die Abschaffung von Hilflosigkeit durch Abschaffung der Hilflosen. Das kann dann vielleicht als „Naturgesetz“ „verkauft“ werden, aber nicht als rationale, wissenschaftliche Entscheidung.

Differenzierter sehen das selbstverständlich die Herren Studenten. Sie sind froh, endlich selbst gefragt zu sein, obwohl sie zugeben, sich von der nationalsozialistischen Ideologie nur dadurch zu unterscheiden, daß sie ja rational argumentieren. (...) Und wenn Singer behauptet, es ginge ihm ganz allein um das zukünftige Seelenheil eines Säuglings, den er töten will, dann glauben sie es.

Gemeinsam ist allen, daß sie die Lösung von in dieser Gesellschaft scheinbar kaum zu vermeidenden Konflikten von einer Ebene verdrängen, wo der ganze Mensch gefordert ist sich zu verhalten und sie an Instanzen verweisen, seien es staatliche, religiöse oder sonstige Autoritäten oder verinnerlichte, mehr oder weniger imaginäre Instanzen, seien sie Rationalität, Vernunft oder anders genannt.

Nun ist es nicht so, daß diese Art von „Konfliktdelegierung“ so ungewöhnlich ist, aber in diesem Fall kann sie für viele von uns und unseren Kindern tödliche Auswirkungen haben.

Katrin, Nicht-mehr-Studentin

(...) Was sich als roter Faden durch das Interview zieht, ist der Glaube an den „wertfreien“ philosophischen Diskurs und das Gebet an die „Rationalität“. (...) Wessen „Rationalität“ ist das, wenn sich der Gesundheitstechniker als HERR über Leben und Tod fühlt? Auf was für einer „Rationalität“ basieren eure „rationalen“ und „überprüfbaren“ Kriterien?

Auf einer Rationalität, die sich schon längst entschieden hat, Leben einzuteilen in „Kranke und Gesunde“, „Starke und Schwache“, „Verrückte und Normale“, „Leidende und Glückliche“. Einer Rationalität, die den Verwertungsinteressen der HERRschenden in dieser Gesellschaft entspringt, und die von daher nie „wertfrei“ sein kann.

Genau dieser „Rationalität“, die dem patriarchalen Prinzip von teile und herrsche entspricht, bemächtigten sich Singer sowie seine Vorgänger im Faschismus: Denn entgegen Eurer Behauptung im Interview, haben die Faschisten und HERREN Rassehygieniker nicht „willkürlich und intuitiv“ über lebenswertes und lebensunwertes Leben“, sondern planmäßig nach tödlichem ökonomischem Kalkül bestimmt. (...)

Das Lebensrecht aller Menschen ist und bleibt undiskutierbar! Die Konsequenzen Eurer und Singers „Rationalität“ sind tödlich. (...)

Beate

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